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Mensch sein. Auf der andern Seite ist Klugheit, welche die Wohlfahrt Anderer nicht berührt, wenn sie auch an sich eine sehr nützliche Tugend ist, niemals sehr hoch geschätzt worden. Da Niemand die für die Wohlfahrt des Stammes notwendigen Tugenden ohne Selbstaufopferung, Selbstbeherrschung und die Kraft der Ausdauer üben kann, so sind diese Eigenschaften zu allen Zeiten, und zwar äusserst gerechter Weise, hochgeschätzt worden. Der americanische Wilde unterwirft sich freiwillig ohne Murren den schrecklichsten Qualen, um seine Tapferkeit und seinen Muth zu beweisen und zu kräftigen; und wir müssen ihn unwillkürlich bewundern, wie selbst einen indischen Fakir, welcher in Folge eines närrischen religiösen Motivs an einem in sein Fleisch gestossenen Haken in der Luft hängt.

Die andern auf das Individuum selbst Bezug habenden Tugenden, welche nicht augenfällig die Wohlfahrt des Stammes berühren, wenn sie es auch in der That wohl thun können, sind von Wilden nie geschätzt worden, trotzdem sie jetzt von civilisirten Nationen hoch anerkannt werden. Die grösste Unmässigkeit ist für Wilde kein Vorwurf; ungeheure Zügellosigkeit und unnatürliche Verbrechen herrschen bei ihnen in staunenerregender Weise.[1] Sobald indess die Ehe, mag sie Polygamie oder Monogamie sein, gebräuchlich wird, führt die Eifersucht auch zur Einprägung der weiblichen Tugend, und da diese dann geehrt wird, trägt sie auch dazu bei, sich auf unverheirathete Frauen zu verbreiten. Wie langsam es geschieht, bis sie sich auch auf das männliche Geschlecht verbreitet, sehen wir bis auf den heutigen Tag. Keuschheit erfordert vor allen Dingen Selbstbeherrschung; sie ist daher schon seit einer sehr frühen Zeit in der moralischen Geschichte civilisirter Völker geehrt worden. Als eine Folge hiervon ist der sinnlose Gebrauch des Cölibats seit einer sehr frühen Zeit als Tugend betrachtet worden.[2] Die Verabscheuung der Unzüchtigkeit, welche uns so natürlich erscheint, dass man diesen Abscheu für angeboren halten könnte, und welcher eine so wirksame Hülfe zur Keuschheit ist, ist eine moderne Tugend, welche ausschliesslich, wie Sir G. Staunton bemerkt,[3] dem civilisirten Leben angehört. Dies wird durch die religiösen Gebräuche verschiedener Nationen des Alterthums, durch die


  1. Mr. M’Lennan hat eine gute Sammlung von Thatsachen über diesen Gegenstand gegeben in: Primitive Marriage, 1865, p. 176.
  2. Lecky, History of European Morals. Vol. I. 1869, p. 109.
  3. Embassy to China. Vol. II, p. 348.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/167&oldid=- (Version vom 31.7.2018)