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bekannt ist, ist diese Ansicht von keinem Naturforscher angenommen worden, welcher der Bildung eines unabhängigen Urtheils fähig ist, und braucht daher hier nicht weiter betrachtet zu werden.

Wir können wohl einsehen, warum eine Classification, welche auf irgend ein einzelnes Organ oder Merkmal – selbst auf ein Organ von einer so wunderbaren Complicirtheit oder von solcher Bedeutung wie das Gehirn – oder auf hohe Entwickelung der geistigen Fähigkeiten sich gründet, sich fast mit Gewissheit als unbefriedigend herausstellt. Der Versuch, nach diesem Principe einzutheilen, ist in der That bei den Hymenoptern unter den Insecten angestellt worden. Wurden aber diese nach ihrer Lebensweise oder ihren Instincten classificirt, so erwies sich die Anordnung als durchaus künstlich.[1] Die Classificationen können natürlich auf irgendwelchen Character basirt werden, so auf die Grösse, die Farbe oder das Element, welches die Thiere bewohnen. Es haben aber die Naturforscher schon seit langer Zeit die tiefe Ueberzeugung gehabt, dass es ein natürliches System gebe. Wie jetzt allgemein zugegeben wird, muss dieses System soweit als nur möglich genealogisch in seiner Anordnung sein, – d. h. die verschiedenen Nachkommen einer und derselben Form müssen in einer Gruppe zusammengehalten werden und zwar getrennt von den verschiedenen Nachkommen einer andern Form. Sind aber die Stammformen mit einander verwandt, so werden es auch deren Nachkommen sein, und die beiden Gruppen zusammen werden dann eine gemeinsame grössere Gruppe bilden. Die Grösse der Verschiedenheit zwischen den verschiedenen Gruppen, – welcher den Betrag der Modifikationen, denen eine jede derselben unterlegen ist, bezeichnet, – wird durch derartige Ausdrücke wie Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen angegeben. Da wir keine Urkunden über die Descendenzreihen besitzen, so können die Stammbäume nur durch Beobachtung der Aehnlichkeitsgrade zwischen den einzelnen zu classificirenden Wesen entdeckt werden. Zu diesem Zwecke sind zahlreiche einzelne Punkte der Uebereinstimmung von viel grösserer Bedeutung als der Betrag von Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit in einigen wenigen Punkten. Wenn nachgewiesen würde, dass zwei Sprachen einander in einer Menge von Worten und Constructionsweisen glichen, so würden sie ganz allgemein als aus einer gemeinsamen Quelle stammend anerkannt werden, trotzdem sie in einigen wenigen Punkten oder Constructionsweisen


  1. Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. II. 1840, p. 87.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/205&oldid=- (Version vom 31.7.2018)