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in einem rudimentären Zustande beim andern Geschlechte gefunden werden, kann dadurch erklärt werden, dass das eine Geschlecht allmählich diese Organe erlangte, und dass sie dann in mehr oder weniger unvollkommenem Zustande auf das andere Geschlecht mit überliefert wurden. Wenn wir die geschlechtliche Zuchtwahl zu behandeln haben werden, werden wir zahllose Beispiele dieser Form der Ueberlieferung antreffen, — so in den Fällen, wo Spornen, besondere Federn oder brillante Farben, welche von den männlichen Vögeln zum Kämpfen oder zum Schmuck erlangt worden sind, in einem unvollkommenen oder rudimentären Zustand den Weibchen überliefert worden sind.

Dass männliche Säugethiere functionell unvollkommene Milchdrüsen besitzen, ist in manchen Beziehungen ganz besonders merkwürdig. Die Monotremen haben die ordentlichen milchabsondernden Drüsen mit Oeffnungen, aber ohne Zitzen; und da diese Thiere factisch auf dem Boden der ganzen Säugethierreihe stehen, so ist es wahrscheinlich, dass die Urerzeuger der Classe in gleicher Weise die milchabsondernden Drüsen, aber keine Zitzen besassen. Diese Folgerung wird noch durch das unterstützt, was wir von ihrer Entwickelungsweise wissen; denn Professor Turner theilt mir nach der Autorität von Kölliker und Langer mit, dass beim Embryo die Milchdrüsen deutlich nachgewiesen werden können, noch ehe die Warzen auch nur im geringsten sichtbar sind; und die Entwickelung nach einander auftretender Theile am Individuum stellt im Allgemeinen die Entwickelung nach einander auftretender Geschöpfe in derselben Descendenzreihe dar oder stimmt mit dieser überein. Die Marsupialien weichen von den Monotremen durch den Besitz von Zitzen ab, so dass diese Organe wahrscheinlich von den Marsupialien zuerst erlangt wurden, nachdem sie von den Monotremen sich abgezweigt und sich über dieselben erhoben hatten, worauf sie dann den placentalen Säugethieren überliefert wurden.[1] Niemand wird annehmen, dass die Marsupialien noch zwitterhaft blieben, nachdem sie ihren gegenwärtigen Bau annäherungsweise erreicht hatten. Wie haben wir es nun dann zu erklären, dass männliche Säugethiere Milchdrüsen


  1. Prof. Gegenbaur hat gezeigt (Jenaische Zeitschrift, Bd. VII, p. 212), dass durch die verschiedenen Säugethierordnungen zwei verschiedene Typen von Zitzen vorkommen, dass es aber vollständig zu begreifen ist, wie beide von den Zitzen der Beutelthiere, und diese letzteren von den Milchdrüsen der Monotremen abgeleitet werden können, s. auch einen Aufsatz von Dr. Max Huss über die Brustdrüsen, in derselben Zeitschrift, Bd. VIII, p. 176.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/224&oldid=- (Version vom 31.7.2018)