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Thatsache kam in dem merkwürdigen, früher erwähnten Falle vor, wo ein junger Mann zwei Paar Milchdrüsen besass. Man hat Fälle kennen gelernt, wo sie gelegentlich beim Menschen und andern Säugethieren in der Reifeperiode so wohl entwickelt waren, dass sie eine reichliche Menge von Milch absonderten. Wenn wir nun annehmen, dass während einer frühen lange dauernden Periode die männlichen Säugethiere ihre Weibchen bei der Ernährung ihrer Nachkommen unterstützten[1] und dass später aus irgend einer Ursache (z. B. wenn eine kleinere Zahl von Jungen hervorgebracht wurde) die Männchen aufhörten, diese Hülfe zu leisten, so würde Nichtgebrauch der Organe während des Reifezustands dazu führen, dass sie unthätig würden; und nach zwei bekannten Principien der Vererbung würde dieser Zustand der Unthätigkeit wahrscheinlich auf die Männchen im entsprechenden Alter der Reife vererbt werden. Aber auf einer früheren Altersstufe würden diese Organe unafficirt bleiben, so dass sie bei den Jungen beider Geschlechter gleichmässig wohl entwickelt sein würden.

Schluss. — Die beste Definition der Weiterentwickelung oder des Fortschritts in der organischen Stufenleiter, welche je gegeben worden ist, ist die von Karl Ernst von Baer gegebene, dass dieselbe auf dem Betrag der Differenzirung und Specialisirung der verschiedenen Theile eines und desselben Wesens beruht, wenn es, wie ich geneigt sein würde hinzuzufügen, zur Reife gelangt ist. Da nun Organismen mittelst der natürlichen Zuchtwahl langsam verschiedenartigen Richtungen des Lebens angepasst worden sind, so werden ihre Theile in Folge des durch die Theilung der physiologischen Arbeit erlangten Vortheils immer mehr und mehr für verschiedene Functionen differenzirt und specialisirt worden sein. Ein und derselbe Theil scheint oft zuerst für den einen Zweck und dann lange Zeit später für irgend einen andern und völlig verschiedenen Zweck modificirt worden zu sein; und hierdurch sind alle Theile mehr oder weniger complicirt gemacht worden. Aber jeder Organismus wird noch immer den allgemeinen Typus des Baues seines Urerzeugers, von dem er ursprünglich herrührte, beibehalten. In Uebereinstimmung mit dieser Ansicht scheint, wenn wir die geologischen Zeugnisse berücksichtigen, die Organisation im Ganzen auf der Erde in langsamen und unterbrochenen Schritten vorgeschritten


  1. Mdlle C. Royer hat eine ähnliche Ansicht vorgetragen in ihrem „Origine de l'homme“ etc. 1870.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/226&oldid=- (Version vom 31.7.2018)