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sich bei dem Menschen in einem rudimentären Zustande; sie sind auch in ihrer Entwickelung, oder wenigstens in ihren Functionen, variabel. Ich habe einen Mann gesehen, welcher das ganze Ohr vorwärts ziehen konnte; andere können es nach oben ziehen; ein anderer konnte es rückwärts bewegen;[1] und nach dem, was mir eine dieser Personen sagt, ist es wahrscheinlich, dass die Meisten von uns dadurch, dass wir oft unsere Ohren berühren und hierdurch unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken, nach wiederholten Versuchen etwas Bewegungskraft wiedererlangen können. Die Fähigkeit, die Ohren aufzurichten und sie nach verschiedenen Richtungen hinzuwenden, ist ohne Zweifel für viele Thiere von dem höchsten Nutzen, da diese hierdurch den Ort der Gefahr erkennen; ich habe aber nie auf zuverlässige Autorität hin von einem Menschen gehört, welcher auch nur die geringste Fähigkeit, die Ohren aufzurichten, besessen hätte, die einzige Bewegung, welche für ihn von Nutzen sein könnte. Die ganze äussere Ohrmuschel könnte man als Rudiment betrachten, zusammen mit den verschiedenen Falten und Vorsprüngen (Helix und Antihelix, Tragus und Antitragus u. s. w.), welche bei den niederen Thieren das Ohr kräftigen und stützen, wenn es aufgerichtet ist, ohne sein Gewicht sehr zu vermehren. Manche Autoren vermuthen indess, dass der Knorpel der Ohrmuschel dazu dient, die Schallschwingungen dem Hörnerven zu übermitteln. Mr. Toynbee kommt aber,[2] nachdem er alle bekannten Erfahrungen über diesen Punkt gesammelt hat, zu dem Schluss, dass die äussere Ohrmuschel von keinem bestimmten Nutzen ist. Die Ohren des Schimpanse und Orang sind denen des Menschen merkwürdig ähnlich, auch sind die Ohrmuskeln gleichfalls nur sehr gering entwickelt,[3] und mir haben die Wärter in den zoologischen Gärten versichert, dass diese Thiere sie nie bewegen oder aufrichten, so dass also dieselben in einem gleichermaassen rudimentären Zustande sind, was die Function betrifft, wie beim Menschen. Warum diese Thiere, ebenso wie die Voreltern des Menschen, die Fähigkeit, ihre Ohren aufzurichten, verloren haben,


  1. Canestrini citirt für ähnliche Thatsachen Hyrtl (Anuario della Soc. dei Natural. Modena. 1867. p. 97).
  2. The Diseases of the Ear by J. Toynbee. London, 1860, p. 12. Ein angesehener Physiolog, Prof. Preyer, theilt mir mit, dass er in neuerer Zeit Versuche über die Functionen der Ohrmuschel angestellt habe und ziemlich zu demselben Resultate gekommen sei, wie das oben erwähnte.
  3. Prof. A. Macalister. Annals and Mag. of Nat. Hist. Vol. VII. 1871. p. 342.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1878, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)