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Verschiedene Betrachtungen führen endlich, wie wir gesehen haben, zu der Schlussfolgerung, dass bei der grösseren Anzahl brillant gefärbter Lepidoptern das Männchen es ist, welches hauptsächlich durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt worden ist. Die Grösse der Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern hängt von der Form von Vererbung ab, welche vorgeherrscht hat. Die Vererbung wird durch so viele unbekannte Gesetze oder Bedingungen bestimmt, dass sie uns in ihrer Wirkung äusserst launisch erscheint;[1] und insoweit können wir wohl einsehen, woher es kommt, dass bei nahe verwandten Species die Geschlechter entweder in einem erstaunlichen Grade von einander abweichen, oder in ihrer Färbung identisch sind. Da die auf einander folgenden Stufen in dem Processe der Abänderung nothwendig sämmtlich durch die Weibchen hindurch überliefert werden, so kann eine grössere oder geringere Anzahl solcher Veränderungszustände sich bei diesen leicht entwickeln, und hieraus können wir verstehen, weshalb sich so häufig eine Reihe feiner Abstufungen von einer ausserordentlich grossen Verschiedenheit bis zu einem durchaus nicht verschiedenen Zustande zwischen den Geschlechtern verwandter Species zeigt. Diese Fälle von Abstufungen sind, wie hinzugefügt werden mag, viel zu häufig, um die Vermuthung zu begünstigen, dass wir hier Weibchen vor uns sähen, welche factisch den Process des Uebergangs darböten und ihre glänzenden Farben zum Zwecke des Schutzes verlören. Denn wir haben allen Grund zu schliessen, dass in einer jeden gegebenen Zeit die grössere Zahl der Species sich in einem fixirten Zustande befindet.

Nachäffung, Mimicrie. – Dieses Princip ist zuerst in einem ausgezeichneten Aufsatze von Mr. Bates[2] klar nachgewiesen worden, welcher dadurch eine Masse Licht auf viele dunkle Probleme warf. Es war früher beobachtet worden, dass gewisse Schmetterlinge in Südamerica, welche zu völlig verschiedenen Familien gehören, den Heliconiden in jedem Striche und jeder Schattirung der Färbung so sehr glichen, dass sie nur durch einen erfahrenen Entomologen von jenen unterschieden werden konnten. Da die Heliconiden in ihrer gewöhnlichen Art und Weise gefärbt sind, während die Andern von der


  1. Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. 2. Aufl. Bd. 2. Cap. 12, S. 20.
  2. Transact. Linnean Soc. Vol. XXIII. 1862, p. 495.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/436&oldid=- (Version vom 31.7.2018)