diese Charactere zu entwickeln haben. Dem Anscheine nach werden Abänderungen, welche spät im Leben auftreten, gemeiniglich auf ein und dasselbe Geschlecht überliefert. Variabilität ist die nothwendige Grundlage für die Wirkung der Zuchtwahl und ist vollständig unabhängig von derselben. Es folgt hieraus, dass Abänderungen einer und derselben allgemeinen Beschaffenheit häufig von geschlechtlicher Zuchtwahl zu ihrem Vortheile benutzt und in Bezug auf die Fortpflanzung der Species angehäuft worden sind, ebenso wie von natürlicher Zuchtwahl in Bezug auf die allgemeinen Zwecke des Lebens. Wenn daher secundäre Sexualcharactere gleichmässig auf beide Geschlechter überliefert werden, so können sie von gewöhnlichen specifischen Characteren nur mit Hülfe der Analogie unterschieden werden. Die durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangten Modificationen sind häufig so scharf ausgesprochen, dass die beiden Geschlechter oft als verschiedene Species, ja selbst als verschiedenen Gattungen angehörig aufgeführt worden sind. Derartige scharf ausgesprochene Verschiedenheiten müssen in irgend einer Weise von hoher Bedeutung sein, und wir wissen, dass sie in einigen Fällen auf Kosten nicht bloss der Bequemlichkeit, sondern des Schutzes gegen wirkliche Gefahren erlangt worden sind.
Der Glaube an die Wirksamkeit geschlechtlicher Zuchtwahl ruht hauptsächlich auf den folgenden Betrachtungen. Gewisse Charactere sind auf ein Geschlecht beschränkt, und dies allein macht es wahrscheinlich, dass sie in den meisten Fällen in irgendwelcher Weise mit dem Acte der Reproduction in Verbindung stehen. Diese Charactere entwickeln sich in zahllosen Fällen vollständig nur zur Zeit der Geschlechtsreife und häufig nur während eines Theils des Jahres, welcher stets die Paarungszeit ist. Die Männchen sind (mit Beiseitelassung einiger weniger exceptioneller Fälle) die bei der Bewerbung thätigeren; sie sind die besserbewaffneten und werden in verschiedener Weise zu den anziehenderen gemacht. Es ist speciell zu beachten, dass die Männchen ihre Reize mit ausgesuchter Sorgfalt in der Gegenwart der Weibchen entfalten und dass sie dieselben selten oder niemals entfalten, ausgenommen während der Zeit der Liebe. Es ist unglaublich, dass diese ganze Entfaltung zwecklos sein sollte. Endlich haben wir entschiedene Beweise bei einigen Säugethieren und Vögeln dafür, dass die Individuen des einen Geschlechts fähig sind, eine starke Antipathie oder Vorliebe für gewisse Individuen des andern Geschlechts zu empfinden.
Behalten wir diese Thatsachen im Auge und denken wir an die
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/389&oldid=- (Version vom 31.7.2018)