allmählich dem Punkte näherten, in Thränen auszubrechen; beide Beobachter waren darüber sicher, daß die Niederzieher-Muskeln eher in Thätigkeit zu treten begannen, als irgend einer der andern Muskeln. Da nun die Niederzieher wiederholt viele Generationen hindurch während der frühen Kindheit in heftige Thätigkeit versetzt worden sind, so wird Nervenkraft nach dem Princip lange associirter Gewohnheit streben, nach denselben Muskeln ebenso wie nach den andern Gesichtsmuskeln hinzuströmen, sobald im spätern Leben selbst ein leichtes Gefühl der Trübsal empfunden wird. Da aber die Niederzieher etwas weniger unter der Controle des Willens stehen als die meisten andern Muskeln, so können wir erwarten, daß sie sich häufig in leichtem Grade zusammenziehen werden, während die andern unthätig bleiben. Es ist merkwürdig, eine wie geringe Herabdrückung der Mundwinkel dem Gesicht einen Ausdruck von Gedrücktsein oder Niedergeschlagenheit gibt, so daß eine äußerst unbedeutende Zusammenziehung dieser Muskeln hinreichend ist, diesen Seelenzustand zu verrathen.
Ich will hier eine unbedeutende Beobachtung erwähnen, da sie dazu dient, den vorliegenden Gegenstand zusammen zu fassen. Eine alte Dame mit gemüthlichem, aber in Gedanken vertieftem Ausdruck saß mir in einem Eisenbahnwagen nahezu gegenüber. Während ich nach ihr hinsah, bemerkte ich, daß ihre Depressores anguli oris sehr unbedeutend, aber doch entschieden zusammen gezogen wurden; da aber ihr Gesicht so glatt und mild wie immer blieb, so dachte ich nur darüber nach, wie bedeutungslos diese Zusammenziehung war und wie leicht man getäuscht werden könnte. Der Gedanke war kaum in mir aufgestiegen, als ich sah, wie sich die Augen der Dame plötzlich so mit Thränen füllten, daß sie beinahe überflossen; dabei sank ihr ganzes Gesicht in sich zusammen. Nun konnte darüber kein Zweifel bestehen, daß irgend eine schmerzliche Erinnerung, vielleicht an ein längst verlorenes Kind, ihr durch die Seele zog. Sobald ihr Sensorium in dieser Art afficirt wurde, überlieferten gewisse Nervenzellen aus langer Gewohnheit augenblicklich einen Befehl an alle Respirationsmuskeln und an die Muskeln rings um den Mund, sich auf einen Anfall von Weinen bereit zu machen. Diesem Befehl wurde aber durch den Willen, oder vielmehr durch eine später erlangte Gewohnheit das Gegengewicht gehalten; sämmtliche Muskeln gehorchten diesem Einflusse, mit Ausnahme der Depressores anguli oris, welche in geringem Grade sich zusammenzogen. Der Mund wurde
Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1877, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAusdruck.djvu/187&oldid=- (Version vom 31.7.2018)