Ein anderes Princip, nämlich das innerliche Bewußtsein, daß die Kraft oder die Fähigkeit des Nervensystems beschränkt ist, wird, wenn auch nur in einem untergeordneten Grade, die Neigung zu heftigen Handlungen im äußersten Leiden verstärkt haben. Ein Mensch kann nicht tief nachdenken und gleichzeitig seine Muskelkraft auf das Äußerste anstrengen. Wie Hippokrates schon vor langer Zeit bemerkt hat: wenn zwei Schmerzen zu einer und derselben Zeit gefühlt werden, so übertäubt der heftigere den andern. Märtyrer sind in der Ecstase ihrer religiösen Schwärmerei wie es scheint häufig für die schauderhaftesten Qualen unempfindlich gewesen. Wenn Matrosen gepeitscht werden sollen, so nehmen sie zuweilen ein Stück Blei in ihren Mund, um es mit äußerster Kraft zu beißen und so den Schmerz zu ertragen. Kreißende Frauen bereiten sich darauf vor, ihre Muskeln bis zum Äußersten anzustrengen, um ihre Schmerzen dadurch zu erleichtern.
Wir sehen hieraus, daß die nicht besonders geleitete Ausstrahlung von Nervenkraft von den zuerst afficirt gewesenen Nervenzellen, — der lang fortgesetzte Gebrauch, in heftigem Kampfe den Versuch zu machen, der Ursache des Leidens zu entfliehen — und das Bewußtsein, daß willkürliche Anstrengung der Muskeln den Schmerz erleichtert, daß alles dies wahrscheinlich sich vereinigt hat, die Neigung zu den heftigsten beinahe convulsivischen Bewegungen im Zustande äußersten Leidens herbeizuführen; und derartige Bewegungen mit Einschluß derer der Stimmorgane werden ganz allgemein als im hohen Grade ausdrucksvoll für diesen Zustand anerkannt.
Da die bloße Berührung eines Empfindungsnerven in einer directen Weise auf das Herz zurückwirkt, so wird offenbar auch heftiger Schmerz in gleicher Weise aber noch weit energischer auf dasselbe zurückwirken. Nichtsdestoweniger dürfen wir selbst in diesem Falle die indirecte Einwirkung der Gewohnheit auf das Herz nicht übersehen, wie wir später noch sehen werden, wenn wir die Zeichen der Wuth betrachten.
Wenn ein Mann in einer Agonie von Schmerz leidet, so rieselt ihm häufig der Schweiß das Gesicht herab; und mir hat ein Veterinärarzt versichert, daß er häufig gesehen habe, wie bei Pferden die Tropfen von dem Bauche herabfallen und die Innenseite der Schenkel herabrinnen, ebenso an dem Körper der Kinder, wenn diese heftig leiden. Er hat dies beobachtet, als gar kein heftiges Sträuben vorhanden
Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1877, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAusdruck.djvu/72&oldid=- (Version vom 31.7.2018)