Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein | |
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mit deren Hülfe die natürliche Zuchtwahl zu wirken und welche sie zu häufen vermocht hätte. Wahrscheinlich in keinem Falle ist die Zeit ausreichend gewesen, um den höchsten möglichen Grad der Entwickelung zu erreichen. In einigen wenigen Fällen ist wohl auch das eingetreten, was wir einen Rückschritt der Organisation nennen müssen. Aber die Hauptursache liegt in der Thatsache, daß unter sehr einfachen Lebensbedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, möglicherweise sogar von wirklichem Nachtheil sein kann, weil sie zarter, empfindlicher und leichter zu stören und zu beschädigen ist.
Wenn man auf das erste Erwachen des Lebens zurückblickt, wo alle organischen Wesen, wie wir uns wohl vorstellen können, noch die einfachste Structur besaßen: wie können da, hat man gefragt, die ersten Fortschritte in der Vervollkommnung oder der Differenzirung der Organe begonnen haben? Herbert Spencer würde wahrscheinlich antworten, daß, sobald die einfachen einzelligen Organismen durch Wachsthum oder Theilung zu mehrzelligen Gebilden geworden oder auf eine sie tragende Fläche geheftet worden wären, sein Gesetz in Wirksamkeit getreten sei, daß nämlich „homologe Einheiten irgend welcher Ordnung in dem Verhältnisse differenzirt werden, als ihre Beziehungen zu den auf sie wirkenden Kräften verschieden werden“. Da uns aber keine Thatsachen leiten können, so ist alle Speculation über diesen Punkt beinahe nutzlos. Es wäre jedoch ein Irrthum, anzunehmen, daß kein Kampf um’s Dasein und mithin keine natürliche Zuchtwahl eher stattgefunden hätte, als bis erst vielerlei Formen hervorgebracht worden wären. Abänderungen einer einzelnen Art auf einem abgesonderten Standorte mögen vortheilhaft gewesen sein und so entweder die ganze Masse von Individuen umgestaltet oder die Entstehung zweier verschiedenen Formen vermittelt haben. Doch ich muß auf dasjenige zurückkommen, was ich schon am Ende der Einleitung ausgesprochen habe, daß sich Niemand wundern darf, wenn jetzt noch Vieles in Bezug auf den Ursprung der Arten unerklärt bleiben muß, wenn wir unsere gänzliche Unwissenheit über die Wechselbeziehungen der Erdenbewohner während der Jetztzeit und noch mehr während der verflossenen Perioden ihrer Geschichte in Rechnung bringen.
H. C. Watson glaubt, ich habe die Wichtigkeit des Princips der Divergenz der Charactere (an welches er jedoch offenbar selbst glaubt)
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/160&oldid=- (Version vom 31.7.2018)