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auch sein mag, in annähernd gleicher Beschaffenheit auf viele bereits abgeänderte Nachkommen übertragen worden ist, wie dies mit dem Flügel der Fledermaus der Fall ist, so muß es meiner Theorie zufolge schon eine unermeßliche Zeit hindurch in dem gleichen Zustande vorhanden gewesen sein; und in Folge hiervon ist es jetzt nicht veränderlicher als irgend ein anderes Organ. Nur in denjenigen Fällen, wo die Modification noch verhältnismäßig neu und außerordentlich groß ist, sollten wir daher die „generative Veränderlichkeit“, wie wir es nennen können, noch in hohem Grade vorhanden finden. Denn in diesem Falle wird die Veränderlichkeit nur selten schon durch fortgesetzte Zuchtwahl der in irgend einer geforderten Weise und Stufe variirenden und durch fortwährende Beseitigung der zum Rückschlag auf einen früheren und weniger modificirten Zustand neigenden Individuen zu einem festen Ziele gelangt sein.


Specifische Charactere sind veränderlicher als Gattungscharactere.

Das in dem vorigen Abschnitte erörterte Princip kann auch auf den vorliegenden Gegenstand angewendet werden. Es ist notorisch, daß die specifischen mehr als die Gattungscharactere abzuändern geneigt sind. Wenn in einer großen Pflanzengattung einige Arten blaue Blüthen und andere rothe haben, so wird die Farbe nur ein Artcharacter sein und daher auch niemand überrascht werden, wenn eine blaublühende Art in Roth variirt oder umgekehrt. Wenn aber alle Arten blaue Blumen haben, so wird die Farbe zum Gattungscharacter, und ihre Veränderung würde schon eine ungewöhnliche Erscheinung sein. Ich habe gerade dieses Beispiel gewählt, weil eine Erklärung, welche die meisten Naturforscher sonst beizubringen geneigt sein würden, darauf nicht anwendbar ist, daß nämlich specifische Charactere deshalb mehr als generische veränderlich erscheinen, weil sie von Theilen entlehnt sind, die eine mindere physiologische Wichtigkeit besitzen als diejenigen, welche gewöhnlich zur Characterisirung der Gattungen dienen. Ich glaube zwar, daß diese Erklärung theilweise, indessen nur indirect, richtig ist; ich werde jedoch auf diesen Punkt in dem Abschnitte über Classification zurückkommen. Es dürfte fast überflüssig sein, Beispiele zur Unterstützung der obigen Behauptung anzuführen, daß gewöhnliche Artencharactere veränderlicher als Gattungscharactere sind; was aber die wichtigen Charactere betrifft, so habe ich in naturhistorischen Werken wiederholt bemerkt, daß wenn

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/188&oldid=- (Version vom 31.7.2018)