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nun nicht mehr durch dieselbe Kraft der Zuchtwahl regulirt werden. Sind aber durch die Natur des Organismus und der Bedingungen Modificationen hervorgebracht worden, welche für die Wohlfahrt der Species ohne Bedeutung sind, so können sie in nahezu demselben Zustande zahlreichen, im übrigen modificirten Nachkommen überliefert werden und sind auch dem Anscheine nach häufig überliefert worden. Es kann für die größere Zahl der Säugethiere, Vögel oder Reptilien von keiner großen Bedeutung gewesen sein, ob sie mit Haaren, Federn oder Schuppen bekleidet waren; und doch sind beinahe allen Säugethieren Haare, allen Vögeln Federn, und allen echten Reptilien Schuppen überliefert worden. Eine Bildung, welche vielen verwandten Formen gemeinsam ist, wird von uns als von hoher systematischer Bedeutung angesehen und wird demzufolge auch oft als von hoher vitaler Wichtigkeit für die Art angenommen. So bin ich zu glauben geneigt, daß morphologische Differenzen, welche wir als bedeutungsvoll betrachten, wie die Anordnung der Blätter, die Abtheilungen der Blüthe oder des Ovarium, die Stellung der Eichen u. s. w., zuerst in vielen Fällen als fluctuirende Abänderungen erschienen sind, welche früher oder später durch die Natur des Organismus und der umgebenden Bedingungen, ebenso wie durch die Kreuzung verschiedener Individuen, aber nicht durch die natürliche Zuchtwahl constant geworden sind; denn da diese morphologischen Charactere die Wohlfahrt der Art nicht berühren, so können auch unbedeutende Abänderungen an ihnen nicht von natürlicher Zuchtwahl beeinflußt oder gehäuft worden sein. Es ist ein merkwürdiges Resultat, zu dem wir hiermit gelangen, daß nämlich Charactere von geringer vitaler Bedeutung für die Art dem Systematiker die wichtigsten sind. Wie wir aber später bei Behandlung des genetischen Princips der Classification sehen werden, ist dies durchaus nicht so paradox als es zuerst erscheint.

Obgleich wir keine sichern Beweise für die Existenz einer eingebornen Neigung zur progressiven Entwicklung bei organischen Wesen haben, so folgt diese doch, wie ich im vierten Capitel zu zeigen versucht habe, nothwendig der beständigen Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl. Denn die beste Definition, welche jemals von einem hohen Maßstabe der Organisation gegeben worden ist, ist die, daß dies der Grad sei, bis zu welchem Theile specialisirt oder verschiedenartig geworden sind. Und die natürliche Zuchtwahl strebt diesem Ziele zu, insofern hierdurch die Theile in den Stand gesetzt werden, ihre Function wirksamer zu verrichten.

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/258&oldid=- (Version vom 31.7.2018)