Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein | |
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gegen dies Thier wird, wie Chauncey Wright bemerkt hat, ihr langer Hals, und zwar je länger je besser, als Wachtthurm dienen. Es ist gerade dieser Ursache wegen, wie Sir S. Baker bemerkt, daß kein Thier so schwer zu jagen ist als die Giraffe. Das Thier gebraucht auch seinen langen Hals als Angriffs- und Vertheidigungsmittel, dadurch daß es seinen mit stumpfartigen Hörnern bewaffneten Kopf heftig herumschwingt. Die Erhaltung einer jeden Species kann selten durch einen einzigen Vortheil bestimmt werden, wohl aber durch eine Vereinigung aller, großer und kleiner.
Mr. Mivart frägt dann (und dies ist ein zweiter Einwand): wenn natürliche Zuchtwahl so vielvermögend ist und wenn die Fähigkeit hoch hinauf die Zweige abweiden zu können ein so großer Vortheil ist, warum hat da kein anderes huftragendes Säugethier, außer der Giraffe und in einem geringen Grade dem Camel, Guanaco und der Macrauchenia, einen langen Hals erhalten? oder ferner, warum hat kein Glied der Gruppe einen langen Rüssel erhalten? In Bezug auf Süd-Africa, welches früher von zahlreichen Heerden der Giraffe bewohnt wurde, ist die Antwort nicht schwer und kann am besten durch ein Beispiel erläutert werden. Auf jeder Wiese in England, auf welcher Bäume wachsen, sehen wir die niedrigen Zweige durch das Abweiden der Pferde oder Rinder bis genau zu gleicher Höhe gestutzt oder geebnet; und was für ein Vortheil würde es nun z. B. für Schafe sein, wenn solche da gehalten würden, unbedeutend längere Hälse zu erlangen? Auf jedem Gebiete wird irgend eine Art von Thieren beinahe sicher im Stande sein, ihr Futter höher herab zu holen als andere; und es ist beinahe gleich sicher, daß allein diese eine Art ihren Hals durch natürliche Zuchtwahl und die Wirkungen vermehrten Gebrauchs zu diesem Behufe verlängert erhalten wird. In Süd-Africa muß die Concurrenz um das Abweiden höherer Zweige der Acazien und anderer Bäume zwischen Giraffen und Giraffen und nicht zwischen diesen und andern huftragenden Säugethieren bestehen.
Warum in andern Theilen der Welt verschiedene zu derselben Ordnung gehörige Thiere nicht entweder einen verlängerten Hals oder einen Rüssel erhalten haben, kann nicht bestimmt beantwortet werden; es ist aber eben so unverständig auf eine solche Frage eine bestimmte Antwort zu erwarten, als auf die, warum nicht irgend ein Ereignis in der Geschichte der Menschheit in einem Lande sich zugegetragen hat, während es sich in einem andern zutrug. In Bezug
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/262&oldid=- (Version vom 31.7.2018)