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die Bestimmung des Pistills die, den Pollenschläuchen zu gestatten, die in dem Ovarium an seiner Basis enthaltenen Eichen zu erreichen. Das Pistill besteht aus der vom Griffel getragenen Narbe; bei einigen Compositen jedoch haben die männlichen Blüthchen, welche natürlich nicht befruchtet werden können, ein Pistill in rudimentärem Zustande, indem es keine Narbe besitzt; und doch bleibt es sonst wohl entwickelt und wie in andern Compositen mit Haaren überzogen, um den Pollen von den umgebenden und vereinigten Antheren abzustreifen. So kann auch ein Organ für seine eigentliche Bestimmung rudimentär werden und für einen anderen Zweck benutzt werden; so scheint in gewissen Fischen die Schwimmblase für ihre eigentliche Verrichtung, den Fisch im Wasser flottirend zu erhalten, beinahe rudimentär zu werden, indem sie in ein Athmungsorgan oder eine Lunge überzugehen beginnt. Es könnten noch viele andere ähnliche Beispiele angeführt werden.

Noch so wenig entwickelte, aber doch brauchbare Organe sollten nicht rudimentär genannt werden, wenn wir nicht Grund zur Vermuthung haben, daß sie früher höher entwickelt waren; sie können für „werdende“ Organe gelten und im Fortgange zu weiterer Entwickelung. Dagegen sind rudimentäre Organe entweder vollständig nutzlos: wie Zähne, welche niemals das Zahnfleisch durchbrechen, oder beinahe nutzlos, wie die Flügel des Straußes, die nur als Segel dienen. Da Organe in diesem Zustande früher, wo sie noch weniger entwickelt wären, von noch geringerem Nutzen gewesen wären als jetzt, so können sie auch früher nicht durch Variation und natürliche Zuchtwahl gebildet worden sein, welche bloß durch Erhaltung nützlicher Abänderungen wirkt. Sie weisen nur auf einen früheren Zustand ihres Besitzers hin und sind theilweise nur durch Vererbung erhalten worden. Es ist indessen schwer zu erkennen, welche Organe rudimentäre und welche „werdende“ sind; denn wir können nur nach Analogie urtheilen, ob ein Theil weiterer Entwickelung fähig ist, in welchem Falle allein er ein werdender genannt zu werden verdient. Organe in diesem Zustande werden immer selten sein; denn es werden Geschöpfe mit werdenden Organen gewöhnlich durch ihre Nachkommen mit Organen in vollkommenerem und entwickelterem Zustande ersetzt worden und folglich schon vor langer Zeit ausgestorben sein. Der Flügelstummel des Pinguins ist als Ruder von großem Nutzen und mag daher den beginnenden Vogelflügel vorstellen; nicht als ob

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/547&oldid=- (Version vom 31.7.2018)