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So erheben sich dem Verfasser überaus schwere und quälende Probleme: warum hat Gott sein Volk den Heiden dahingegeben? ist doch Israels Sünde, die der Verfasser freilich keineswegs leugnen mag (3,25.34. 4,24. 8,16 f.), nicht schlimmer als die der Heiden, die sich um Gottes Gebote nicht kümmern (3,29-36). Wie kommt es, daß Gott so seine Feinde in Frieden und Wohlergehen beläßt, sein Volk aber vernichtet hat? Kümmert sich Gott nicht um seine Verehrer? um sein Gesetz, das in Israels Katastrophe mitvernichtet ist? um seinen Namen in der Welt (4,25)? Ist doch Israel Gottes einziges, geliebtes, auserwähltes Volk (5,23-30); ist ihm doch einst von Gott die Weltherrschaft verheißen worden (6,38-59). — Dies Leiden aber und diese Sünde seines Volkes in der Gegenwart sind nicht ein Ausnahmefall, sondern nur ein besonders schmerzliches Beispiel des allgemeinen Schicksals der Menschheit. Denn aller Menschen Leben ist nichts als Sünde und Herzeleid; seit Adams Fall ist die ganze Menschheit in Sünde und Schuld (3,1-26). Aus dem Keime der Sünde, den er in sich trug (3,21 f.), ist eine furchtbare Ernte von Gottlosigkeiten erwachsen (4,30); um der Sünde willen ist diese Welt gerichtet und so voll von Mühsal geworden (7,11 f.). Wenn der Verfasser also in die Tiefe dringt, so erkennt er die letzte Ursache alles Bösen in dem bösen Keim, den Adam im Herzen getragen hat. Und nun erhebt sich für ihn das schwere Problem: woher stammt dieser böse Keim (4,4)? Ist doch Adam von Gott allein geschaffen (3,4 f.), ist doch Gott selbst der Leiter der Geschichte! Ach Gott, warum hast du das Alles geduldet (3,8)?

Diese Probleme sind es, die der Verfasser in angstvollem Gebete seinem Gott vorträgt. Wie sehr sie ihm am Herzen liegen, wie sehr er vor Gott um Wahrheit gekämpft hat, ersieht man aus der dreimaligen Wiederholung derselben Fragen am Anfang der drei ersten Visionen. Es sind ja auch nicht erdachte Fragen müßiger Neugier, sondern es sind schwere Anstöße, die ihn im Innersten erregen (3,3.29. 4,2. 6,36 f.), die die Religion selbst zu untergraben drohen. Der Verfasser ringt um seinen Gott; er verteidigt seinen Glauben gegen die Erfahrung; die Erkenntnis, um die er betet, soll ihn vor der Verzweiflung schützen (4,2). — Wenn aber der Verfasser diese Probleme erwägt, so drängt sich ihm eine erschütternde Gewißheit auf: die Überzeugung, daß er Unmögliches begehre! Schon diese irdische Welt ist den Menschen voller Rätsel — der Verfasser meint die kosmischen Geheimnisse, wie sie im äthiopischen Henoch beschrieben werden (4,3-9. 5,36-38) —; wie viel weniger wird der Mensch im stande sein, Gottes Wege zu erkennen! der Sterbliche die Wege des Ewigen! der Irdische des Himmlischen (4,10 f.13-21. 5,35-40)! Nicht leicht ist diese Überzeugung dem Verfasser geworden: besser wäre es, so meint er, den Menschen, nie geboren zu sein, als so in Sünde und Elend zu leben und nicht zu wissen, weshalb (4,12); warum ist das Licht der Vernunft den Menschen gegeben, wenn sie diese notwendigste Frage nicht zu erkennen vermögen (4,22)?

Bis hierher steigert sich das Problem: Gottes Walten in der Welt, das die Menschen, ach, so nahe angeht, jeden Tag aufs Neue, und das sie doch nicht zu erkennen vermögen (4,23-25). Dann aber findet der Verfasser eine Antwort. Freilich keine Lösung, denn die ist, so ist er überzeugt, irdischen Menschen unmöglich; aber doch eine Vertröstung: das Ende bringt die Erkenntnis; „wenn du bleiben wirst, wirst du es schauen“ (4,26.43). Auf diese Welt der Sünde und Mühsal folgt eine neue Welt der Gerechtigkeit und des Heils; diese Welt mag ein quälendes Rätsel sein, aber jene Welt ist aller Rätsel selige Lösung. So stürzt sich der Verfasser mit ganzer Kraft seiner Seele hinweg aus dieser Welt, in der er Gott nicht zu schauen vermag, in jenen Äon, der alle Qual des Leidens und des Ringens nach der Wahrheit von ihm nehmen wird, wo es sich herausstellen muß, daß dennoch, dennoch Gottes Wege mit Israel nichts als lauter Liebe gewesen sind (5,33.40). — So ist IV Esra ein charakteristisches Beispiel dafür, wie es zur jüdisch-christlichen Eschatologie gekommen ist: als man an dieser Welt völlig verzweifelte, hat sich die ganze Wucht der Religion auf den kommenden seligen Äon geworfen.

Von nun an (4,27 ff. 5,41 ff. 7,1 ff.) wendet sich der Verfasser von den Fragen dieser Welt ab, die doch zu Grunde gehen muß, ehe jene lichte Welt erscheinen kann (4,27-32);

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Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/06&oldid=- (Version vom 30.6.2018)