Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra | |
|
Sünder! Es sind dies Stimmungen, wie sie Paulus vor seiner Bekehrung durchkostet haben muß; er hat aus solcher qualvollen Heilsunsicherheit den Ausweg gefunden, indem er mit dem Prinzip, der Gesetzesgerechtigkeit, brach; denn er hatte es in jener entscheidenden Stunde seiner Bekehrung erlebt, daß die himmlischen Güter überhaupt nicht auf Werke hin, sondern nur durch Gottes Gnade, als Geschenk verliehen werden. Der Verfasser des IV Esra ist von diesem Ausweg weit entfernt; er ist für einen solchen prinzipiellen Bruch nicht groß genug; doch ist die Art, wie er vor Gottes Angesicht um das ewige Heil seiner Seele ringt, ehrwürdig und rührend.
Obwohl er die furchtbare Konsequenz der Vergeltungslehre auch für sich selbst erkennt, so hält er sie doch mit großem sittlichem Ernste fest; sein Gewissen bejaht sie. Gott hat Recht, die Sünder der ewigen Pein zu überantworten; denn sie haben ihr Schicksal verdient. Gott hatte ihnen feierlich erklärt, was sie thun sollten, das Leben zu ererben (7,21); sie hatten die Vernunft, um Gottes Willen einzusehen (7,72); sie wußten es, daß es sich um Leben und Tod für ewig handele (7,127-129); sie hatten die Freiheit, das Gute oder das Böse zu thun (9,11); die Buße stand ihnen offen (9,12). Sie aber haben trotz alledem gefrevelt, Gottes Zeugnissen nicht geglaubt, seine Frommen zertreten, seine Gebote verachtet, ja selbst sein Dasein geleugnet (7,22-25.37.72.130. 8,55-58). Was werden sie am jüngsten Tage antworten können (7,73)! Dann, wenn sie zu spät zur Einsicht kommen (9,9-12)! Darum, kein Mitleid mit den Frevlern! Mögen lieber die Meisten der Lebenden ins Verderben gehen, als daß Gottes Gebot und Vorschrift verachtet werden (7,20)! Wie der Landmann so die Ernte (9,17). Eiteles den Eitlen (7,25). Keine Trauer wird sein über die, die nach ihrem eigenen Willen verloren gehen (7,60f.131. 8,38).
Weniger sittlich empfindende Naturen hätten dem Problem durch allerlei Ausflüchte die Spitze abgebrochen; der Verfasser aber schneidet dergleichen ab: in einer gewaltigen, prachtvollen Schilderung des jüngsten Tages wird mit Macht festgestellt, daß das letzte Gericht ein Gericht nicht der Gnade, sondern der strengen Gerechtigkeit sein müsse (7,32-38); auch giebt es keine Fürbitte in diesem Gericht, damit jetzt endlich die Wahrheit ans Licht komme (7,102-115). Ja nicht einmal eine Ruhepause hat der Sünder nach dem Tode; er verfällt sofort, wenn er gestorben ist, bevor er schließlich beim jüngsten Gericht in die Hölle muß, einer vorläufigen siebenfachen Pein. Höchst eindrücklich weiß der Verfasser diese Qualen zu schildern, die Ängste des verurteilten Verbrechers vor der Hinrichtung, ein erschütternder Ausdruck der Angst des eigenen Herzens vor dem jüngsten Gericht (7,75-99).
Auch hier findet der Verfasser für das Problem, das ihn so sehr quält (8,4f.), keine Lösung. Er mag sich trösten, daß eben nicht jede Saat aufgehe — ist aber der Mensch, Gottes Ebenbild, nicht besser als ein Saatkorn (8,41-45)? — daß die wenigen Geretteten gerade wegen ihrer geringen Zahl vor Gottes Augen um so kostbarer sind (7,45-61; ähnlich 8,2); daß Gott das Verderben der Menschen nicht gewollt (8,59f.), ja noch unendliche Langmut mit den Sündern bewiesen habe (7,74. 9,21); daß er es besser wissen werde (7,19), ja, daß auch dieses Rätsels Lösung zuletzt die Liebe Gottes sein müsse (8,47). Aber schließlich weiß er keinen anderen Rat, als an das jämmerliche Schicksal der Sünder nicht mehr zu denken (8,51.55. 9,13). Wundervolle Bilder von der Seligkeit der Frommen stellt er sich vor Augen, um das Elend der Sünder vergessen zu können (8,51-54; auch schon 7,88-98.113f.) Ihm selbst aber wird der Trost hinzugefügt, er selbst sei gerecht (8,47-49); wie sehnsüchtig wird der Leser, der diese Worte liest, im Stillen hinzufügen: Möchten sie auch mir gelten!
So behandelt der Verfasser zwei verschiedene Probleme; beide Male handelt es sich um eine Theodicee; beide Male sind es zwei Reihen von Gedanken und Stimmungen, die ihn hinüber und herüber ziehen: es sind die angstvollen Fragen seines gequälten Herzens (14,14), das Gottes Walten in dieser Welt so sehnsüchtig zu begreifen trachtet; daneben aber die getrosten
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/09&oldid=- (Version vom 30.6.2018)