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uns, daß diese pneumatischen Erscheinungen auch im Judentum niemals ganz ausgestorben sind. Sie waren nur unter der Wucht des Kanons in die Winkel gedrängt; das Zeitalter versagte dem, der solche Erfahrungen gehabt hatte, den Glauben. Das allgemeine Vorurteil, Offenbarungen habe es nur in der alten Zeit gegeben, aber es gebe sie nicht unter den Männern der unsrigen, zwang den Visionär, unter der Maske eines alten, anerkannten Propheten zu schreiben. — Nun ist ganz sicher, daß die Offenbarungen des IV Esra nicht einfach so, wie sie vorliegen, von ihm erlebt sein können; die wohlüberlegte Anordnung des Einzelnen, die vielfache Übernahme fremden und mehrfach schon festausgeprägten Stoffs (vgl. im Vorhergehenden und Folgenden) spricht dagegen. Auch in der Schilderung der visionären Erfahrungen selbst hat der Verf. ältere Muster, besonders Daniel (vgl. Dan. 7,1ff.15ff.28. 8,17ff.27. 9,3ff.20ff. 10,2f.8ff.15ff.) nachgeahmt; für die Form des Wechselgesprächs mit dem Engel vgl. Amos 7,1-3.4-6.7ff.8,1ff.; Jer. 1,4ff.; Sach. 1,9f. 2,2ff.5ff. 5,6. 6,4f.; äth. Hen. 21-32 u. a. Andererseits ist nicht alles als Nachahmung zu begreifen: eine Reihe der geschilderten Erlebnisse hat im Kanon keine Parallele. Vor allem aber werden diese Dinge im IV Esra mit solcher Naturwahrheit dargestellt und hängen so sehr mit den inneren, sicherlich erlebten Zuständen des Verfassers zusammen, daß man das Zutrauen haben darf, daß hier Thatsachen vorliegen. Diese Zerspaltung seines Wesens in den Menschen und den Engel ist für ihn keine künstlich nachgeahmte Einkleidung, sondern sie erscheint mit seinem innersten Leben erfüllt: die mannigfaltigen Empfindungen, unter denen dies Doppelbewußtsein bei ihm aufgetreten ist, und die er so ergreifend schildert, hat er sicherlich selbst erlebt.

So ist auch das Reden im Geiste, von dem der Verfasser 14,41.43 spricht, sehr getreu als „pneumatisches Reden“ geschildert; vgl. besonders das Martyrium des Polpkarp 7,3: σταθεὶς προσηύξατο πλήρης ὢν τῆς χάριτος τοῦ θεοῦ (eine Umschreibung für πνεύματος ἁγίου) οὕτως, ὡς ἐπὶ δύο ὥρας μὴ δύνασθαι σιγῆσαι καὶ ἐκπλήττεσθαι τοὺς ἀκούοντας - -; Polykarp hat die Soldaten, die ihn wegführen sollen, nur um eine Stunde Frist zum Gebete ersucht, aber die Kraft des Geistes reißt ihn fort, so daß daraus zwei Stunden werden. So redet Esra im Geiste Tage und Nächte lang.

Demnach ist also zu schließen, daß der Verf. wirklich visionäre Erlebnisse gehabt, daß er sie aber, seine Vorbilder nachahmend, „gedeutet“, stilisiert und mit mannigfaltigem Stoff ausgeschmückt hat. Solche Ausführung des Erlebten ist aber keineswegs wunderbar, sondern eher die Regel zu nennen; es liegt ja auch in der Natur der Sache: jede Schilderung solcher geheimnisvollen Erfahrungen fügt hinzu. Auch die Propheten sind mannigfach von überliefertem Stoffe abhängig; wie könnten sie sonst so vielfach mit einander übereinstimmen? Und nur um ein Mehr oder Minder des wirklich Erlebten kann es sich handeln. Ein solches Mehr möchte ich beim IV Esra in den drei ersten, ein Minder dagegen in den drei letzten Visionen finden[1].

Aus seiner Gedankenwelt tritt das Bild eines tiefen, aufrichtigen, wahrhaft frommen Mannes hervor: er besitzt die Kraft, die Probleme des frommen Herzens tief zu empfinden, und ist mit großem Ernst entschlossen, ihnen nichts abzubrechen. Aber auch die Schattenseite seines Wesens, unter der er selbst am Meisten leidet, ist deutlich: er hat nicht die Energie, die Probleme mit starkem Willensentschluß endgiltig zu erledigen. Er neigt zum Grübeln: nicht alle seine Probleme beruhen auf wirklichem religiösem Interesse. Alles dies zeigt auch sein Stil: Meister in poetischen, tiefen, gemütvollen Ergüssen, mangelt ihm die Schärfe und Klarheit der Gedanken; seinem Buche fehlt die Übersichtlichkeit. — Es liegt nahe, den Verfasser mit Paulus zu vergleichen, dessen Spekulation er in Manchem nahekommt. Ähnlich sind sich beide in der Überzeugung von der tiefen Verderbnis der menschlichen Natur, in der Verzweifelung an dem Glauben


  1. Die Anregung zu obiger Auffassung der Visionen des IV Esra verdanke ich meinem Freunde, Herrn Privatdocenten Lic. Dr. Weinel in Berlin; vgl. dessen soeben erschienenes Werk „Wirkungen des Geistes und der Geisters“ (1899).
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/12&oldid=- (Version vom 30.6.2018)