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Herrlichkeit. Als Antwort auf diese Klage zeigt ihm Gott ein Weib, in tiefes Leid versenkt, das ihm eine rührende Geschichte vom Tod ihres Sohnes in seiner Hochzeitsnacht erzählt, und das er durch den Hinweis auf das Schicksal alles Fleisches und besonders auf das traurige Los Zions zu trösten versucht; plötzlich verwandelt sich das Weib in eine erbaute Stadt. Der Engel, der hinzukommt, erklärt ihm das Gesicht: das Weib ist Zion; wie dies Weib über ihren Sohn trauert, so Zion über die Zerstörung. So ist er also zur Belohnung für sein treues Klagen begnadigt worden, das trauernde Zion zu trösten — eine wundervolle Wendung, die das Herz des Verfassers enthüllt — und ihre kommende Herrlichkeit vorauszuschauen. — Der Verfasser hat das Schicksal des Weibes im Einzelnen auf Zion allegorisieren wollen: die dreißig Jahre der Unfruchtbarkeit sind die drei Jahre Salomos bis zum Tempelbau, mysteriös gleich drei Weltjahren; die mühsame Erziehung des Sohnes gleich der Zeit voller Nöte, da Zion bewohnt war; der plötzliche Tod des Sohnes gleich der Zerstörung Jerusalems. Doch stimmt diese Deutung mit dem Gesicht nicht recht überein (dies hat Kabisch, Das vierte Buch Esra [1889], S. 85ff., gesehen): so wird es nicht klar, was der Sohn eigentlich sei[1]. Auch werden eine Reihe von Zügen überhaupt nicht gedeutet: so, daß der Sohn in der Brautnacht gestorben ist, daß man dann die Lichter der Hochzeit ausgelöscht hat (ein schön erfundener, dichterisch wirksamer Zug), daß die Mitbürger an Freude und Schmerz Anteil genommen haben, daß das Weib vor der Geburt unaufhörlich gebetet, nach dem Tode bis zur zweiten Nacht geweint hat, dann aufs Land geflohen ist und zu sterben begehrt hat. Alle diese nicht gedeuteten Züge sind novellistischer Art; so liegt die Annahme nahe, daß der Verfasser hier den Anfang einer gemütvollen Familiennovelle, wie sie das Judentum liebt, aufgenommen und allegorisch gedeutet habe. Diese Novelle ist im Tone dem Buche Tobit zu vergleichen, hat aber sonst nichts mit ihm gemein (gegen Clemen, Stud. u. Krit. 1898, S. 241). Leider ist nur der Anfang der reizenden Geschichte erhalten; wir möchten gern auch ihren Schluß hören. Man darf sich denselben nach 10,16f. wohl so denken, daß der Prophet den Sohn der unglücklichen Mutter wieder erweckt habe: als die arme Mutter, nichtsahnend, sich schweren Herzens, aber doch gefaßt, endlich entschließt, ins Haus zurückzukehren, findet sie ihren Sohn — am Leben!

Das fünfte Gesicht beschreibt, wie ein Adler aus dem Meer emporsteigt. Das Tier hat 12 Flügel, 6 links und 6 rechts, 8 Häupter und 8 kleinere „Gegen-Flügel“. Der Adler beginnt, über die Erde dahinzufliegen. Eine Stimme erschallt mitten aus seinem Leibe, die den Flügeln zu ihrer Zeit aufzuwachen, den Häuptern aber einstweilen zu schlafen gebietet. So geschieht es. Zuerst erwachen die 6 Flügel der rechten Seite, regieren und verschwinden; der zweite herrscht mehr als doppelt so lange als die folgenden. Darnach die Flügel der linken Seite, diese aber nur ganz kurze Zeit. So verschwinden die 12 Flügel und 2 der Gegenflügel. 2 der übrigen Gegenflügel begeben sich unter das rechte Haupt. Von den anderen 4 richtet sich der erste auf und verschwindet, noch rascher vergeht der zweite. Während auch die beiden letzten planen, zur Herrschaft zu kommen, richtet sich das mittlere Haupt auf, verbindet sich mit den andern Häuptern und frißt die beiden letzten Gegenflügel. Es kommt zu einer großen Restitution im Reiche. Danach verschwindet das Haupt; von den beiden übriggebliebenen verschlingt das rechte das linke. — Da tritt ein Löwe auf, hält dem Adler seine Sünden vor und kündigt ihm das Gericht an. Danach der Schluß: auch das letzte Adlerhaupt verschwindet; die beiden noch übergebliebenen Gegenflügel herrschen noch kurze Zeit, dann geht der ganze Leib des Adlers in Flammen auf. — Wiederum fügt eine Engelrede die Deutung hinzu: der Adler ist das vierte Weltreich von Dan. 7. Die 12 Flügel sind 12 Könige, die 8 Gegen-Flügel 8 Gegen-(oder Unter-)Könige. Die 3 Häupter sind 3 Könige, die nach einer Zeit der Verwirrung das Reich


  1. Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten Heft VI, S. 219, A. 1, meint, dieser Sohn sei der Messias! Aber ist der Messias im Jahre des Tempelbaus geboren und bei der Zerstörung Jerusamlems gestorben?
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/14&oldid=- (Version vom 30.6.2018)