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ohne jede Deutung wohlverständlich sind, daß aber die Deutung selber manchmal gekünstelt zu sein scheint (ein gutes Beispiel ist Offenb. Joh. 12), während die erdichteten Allegorien gewöhnlich, wenn sie nicht besonders geschickt gefertigt sind, daran leiden, daß sie ohne die Deutung, auf die sie berechnet sind, keinen vernünftigen Sinn haben. Nach diesem Maßstab gemessen ist die Adler-Vision eine erdichtete „Allegorie“: fast alle Züge des Bildes wären an und für sich, ohne Deutung, unverständlich, ja unmöglich. Diese Allegorie scheint nach dem Muster von Dan. 7 angefertigt zu sein; doch mögen auch andere, vielleicht uns unbekannte Vorbilder mit eingewirkt haben. — Viel schwieriger ist die Art des sechsten Gesichts zu erkennen. Es hat manche Berührungen mit alttestam. Stellen, so daß der Gedanke naheliegt, es sei auf Grund dieser Muster erdichtet. Doch beachte man, daß der kommende Weltenherr im Lat nicht wie in Dan. 7 „Menschensohn“, sondern „Mensch“ genannt wird. Beides ist ja der Sache nach identisch; doch würde der lat. Übersetzer „Menschensohn“ gesagt haben, wenn er an Dan. 7 gedacht hätte. Ferner passen einige der mitgeteilten Deutungen nicht recht zum Bilde: daß das Feuer, das der Messias aus seinem Mund entläßt, u. a. auch als die Sünde der Heiden gedeutet wird (13,37f.), ist sonderbar; noch sonderbarer, daß das friedliche Heer in einer so lang ausgesponnenen Geschichte als die 10 Stämme erklärt wird, während man doch zuerst an Juda hätte denken müssen. In beiden Fällen scheint der Verfasser einen Stoff vor sich zu haben, der nicht recht in die Deutung aufgehen will. Auch giebt die Vision in wesentlichen Hauptzügen ein in sich mögliches Bild, das, selbständig gedacht, mythologischer Art sein würde. Man darf also hier doch wohl auf einen traditionellen, jedenfalls durch alttestam. Reminiscenzen weiter ausgeführten Stoff schließen, der ursprünglich für die beigefügte Allegorie nicht berechnet gewesen ist. Weiteres über den Ursprung dieses Stoffes wird man vielleicht einmal sagen können, wenn man die Herkunft des apokalyptischen Geheimnamens „der Mensch“ für den kommenden Welterlöser und Weltregenten kennt.

Wenn der Verfasser des IV Esra sonach für die vierte bis sechste Vision allerlei Materialien benutzt hat, so ist es doch andererseits deutlich, daß er ihnen als Herr und nicht als Knecht gegenübergestanden hat. Er hat nicht abgeschrieben, sondern verarbeitet. Er hat diese Stoffe zu seinem Eigentum gemacht durch Einleitungen (9,26-28 und das Gebet 9,29-37), durch Zwischensätze (die rührenden Klagen um Zion 10,6-8.20-23, die Reflexionen über den Jammer der Erde 10,9-14, das Gespräch mit dem Engel 10,28-39, die Scheltrede des Löwen 11,38-46, die Ausführung, ob die Überlebenden mehr zu preisen oder zu beklagen seien 13,14-24) und durch Schlüsse (10,49-59. 12,39f.40-51. 13,53-58). Man erkennt dabei in diesen Partien seine Feder an der poetischen, bald schwungvollen, bald rührenden Haltung und an der eigentümlich wogenden, grüblerischen Reflexion.

Auch hat der Verfasser es verstanden, diese Visionen in sein Buch aufzunehmen und aus ihnen und den zuerst behandelten Problemen eine organische Einheit zu gestalten: die schmerzlichen Probleme sind in den drei ersten Visionen abgethan; schon darin ist der Verfasser halb getröstet. Jetzt in den drei letzten Visionen werden nur die positiven Fragen behandelt, wie die Erlösung geschehen soll (9,13), um seine Seele ganz zu trösten (12,8). So wird ihm offenbart, daß Zions Herrlichkeit sicherlich erscheinen (IV), daß aber über Rom (V) und über die Heiden (VI) das Gericht ergehen wird. Die Zukunftsoffenbarungen, die der Verfasser hier mitteilt, hat er als Weiterausführungen der schon mitgeteilten verstehen wollen. Auch diese Visionen sind noch durch schmerzliche Betrachtungen eingeleitet (9,27-37) und durch Ausrufe des Schreckens unterbrochen (10,27-37. 12,3-6. 13,13-20); der Engel aber preist ihn selig über diese herrlichen Offenbarungen, die ihm wegen seines treulichen Leidtragens um Zion zu teil geworden sind (10,38f.50-57. 13,53-56 [12,7-9]). Das Ende ist dann Lob und Preis gegen den Höchsten (13,57). So zeigt das Buch, wie der Verfasser sich aus aller Qual und Unsicherheit schließlich doch zu der freudigen Gewißheit erhebt, daß die Geschichte

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Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/17&oldid=- (Version vom 30.6.2018)