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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 162. 10 Juny 1828.

Ueber die Angelegenheiten des Orients,

von General Pelet [1]
Ein Supplement zu dem Lamarque’schen Aufsatze über denselben Gegenstand [2]


Das Interesse meines Vaterlandes bei dem bevorstehenden Krieg und die Nothwendigkeit einer Kriegsmacht nach dem im übrigen Europa herrschenden militärischen Maßstabe, war die Grundidee meines ersten Aufsatzes. Mit Nachdruck erklärte ich mich für ein System der bewaffneten Neutralität als für das geeignetste Mittel, Frankreich den Rang wieder zu geben, der ihm gebührt. Von diesem Gesichtspunkte aus war meine Aufgabe einerseits die russische Frage, die ich deswegen von der griechischen trennte, andererseits die auswärtige Politik überhaupt, die ich mit der Delicatesse behandelte, auf welche jene vornehme Geheimnißvolle Anspruch macht. Wenn ich meine Besorgnisse über das Uebergewicht Rußlands zu erkennen gegeben und mich getäuscht habe, so theile ich diesen Irrthum mit den besten Ministern, die Frankreich hatte, mit dem preußischen Friedrich, mit Joseph II, mit Gustav III, mit unsern ersten Publicisten [3], und – soll ich es sagen? – mit Napoleon: denn diese Politik war die seinige.

Seit jener Aufsatz bekannt gemacht ist, sind drei Monate verflossen, und die Ereignisse haben ihn nicht widerlegt. Vielmehr hat das Ministerium in Betracht „der durch die türkischen Angelegenheiten in den Beziehungen einiger Mächte herbeigeführten Verwickelungen so wie der dadurch eingetretenen besondern Gestaltungen der äußern Politik“ bei den Kammern die erforderlichen Geldmittel nachgesucht, „um unsre Streitkräfte auf einen angemessenen Fuß zu bringen.“ Ein öffentliches Actenstücke sagt: „Alte Nationen sollen ferner nicht mehr die Beute gieriger Nachbarn werden.“ Eine gewagte Expedition ist weislich aufgeschoben, die letzten Conscriptionen sind ganz einberufen worden. Ferner, darf man einigen Zeitungsgerüchten Glauben beimessen, so wären die englischen Truppen aus Portugal bereits auf den ionischen Inseln angekommen, vier große Mächte hätten ihre Neutralität erklärt, Preußen und Oesterreich näherten sich Frankreich und England, und es stünde zu erwarten, daß die alte Politik der Cabinete nicht ganz vergessen wäre. Sollte nicht die frei sich aussprechende Willensmeinung Europa’s hinreichend seyn, den russischen Entwürfen Einhalt zu thun und dem Ausbruch eines allgemeinen Kriegs vorzubeugen? Da die Interessen Rußlands und Griechenlands getrennt sind, so könnten die neutralen Staaten den beiden kriegführenden Mächten die Bedingung auferlegen, der einen, die Donau nicht zu überschreiten (?), und der andern, Griechenland zu räumen. Seit einem Monat hat man nun wohl zwar auch die Nachricht von einem zwischen dem Czar und Persien abgeschlossenen Frieden, und der im Februar unterzeichnete Tractat scheint eine Klausel zu Gunsten des Prinzen Abbas-Mirza zu enthalten; allein der Schah dürfte in einem Krieg, welcher die Sache des Islams so genau berührt, doch vielleicht seinen endlichen Entschluß anders fassen.

Jene Neutralität des Augenblicks wird indessen, wie ich glaube, den künftigen Gang jener Regierungen zum voraus nicht bestimmen. Preußen könnte ein anderes System als das des großen Königs und seines Nachfolgers annehmen; es könnte sich über seine wahren politischen Verhältnisse zu Rußland und dem Continent täuschen: man müßte deshalb auf die Bewegungen seiner Truppen ein wachsames Auge richten, ohne sich auf bloße diplomatische Demonstrationen zu sehr zu verlassen. Aber – werden die übrigen Mächte Zeit haben, ihre Rüstungen zu vollenden?

Ein zweiter Aufsatz über denselben Gegenstand ist seit kurzem erschienen.[4] Er soll den erstern bekämpfen. Wozu dieser Angriff? Sind es verschiedene Gesinnungen oder Wünsche, von denen die beiden Schriftsteller ausgehen? Nein; sie weichen nur in einigen Puncten der auswärtigen Politik von einander ab. Der zweite stellt in nicht stärkern, aber in elegantern Farben ein imposantes Gemälde von England voran, wie es die Welt beherrscht, und in dem Kampf, der sich entspinnt, im Grunde allein betheiligt ist. Dagegen zeigt er Rußland in einem minder günstigen[5] Lichte, den Blick mehr gegen den Orient, gegen Indien gerichtet, nicht geeignet, Europa Besorgnisse einzuflößen. Nach ihm wären „die Russen die natürlichen Verbündeten, die wohlwollenden Beschützer Frankreichs;

  1. Le spectateur militaire
  2. ;Man vergl. Ausl. Num. 136 ff. und Num. 115 ff.
  3. Montesquieu, grandeur des Romains chap. 23; Rulhiére, Histoire de l’anarchie de Pologne; Ségur, Politique des cabinets, Tableau historique et Souvenirs; de Pradt, Paralléle entre la puissance anglaise et russe pag. 56–171. Bignon, les Cabinets et les Peuples etc.
  4. Man sehe die Mittheilung der Regierung vom 14 April und vom 13 Mai, den Bericht des Generals Sebastiani vom 29 April.
  5. siehe Berichtigung auf S. 660 an Stelle von ungünstig.
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_671.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)