darin sogar das Wort steht: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß, wo mein Vater ist?“ Auch der Messiasanspruch Jesu in Nazareth ist nicht gestrichen. Wir bekommen das Aufschlagen der Jesajastelle erzählt, auf deren Verlesung hin Jesus das große Wort spricht: „Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren.“ Aber vielleicht wird unsere Verwunderung etwas geringer, wenn wir die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel auch um ihrer Behandlung in der deutschen Kunst willen in das Volkstestament aufgenommen ansehen. Und bei der Szene in Nazareth, die auch den Herausgebern unseres Büchleins als ein Stück vollmächtiger Verkündigung noch wertvoll ist, braucht man nur den Luthertext neben die Grundmannsche Übersetzung zu stellen, und man wird merken, wie der besondere Messiasanspruch Jesu dabei zurücktritt. Es mag diese Nebeneinanderstellung zugleich als Beispiel für die Sprache des Volkstestaments dienen. Bei Luther heißt es: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.“ Das Volkstestament gibt die Übersetzung der Jesajastelle in folgenden Worten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich erkoren, Gottsuchern Heil zu künden; er hat mich gesandt, zu verheißen Gefangenen Freiheit und Blinden Gesicht, aufzurichten Gebrochene, auszurufen das Heilsjahr des Herrn.“ Die Sprache ist flüssig und wohlkingend. Aber es ist gewiß kein Zufall, daß das Wort von der Salbung vermieden wird, daß die Gottsucher an Stelle der Armen treten genau wie bei der ersten Seligpreisung, die im Volkstestament die Fassung erhält: „Heil euch Gottsuchern. Euch gehört Gottes Reich.“ So werden fast unmerklich die Worte Jesu um ihre Eigenart gebracht und ins Allgemeine einer auch sonst gültigen Lebensweisheit abgebogen.
Gelegentlich führt die Sorge vor „Judaismen“ allerdings zu noch schärferen Eingriffen in den Text. Die Antwort Jesu auf die Frage des Pilatus: „Bist du der Juden König?“ lautet nicht wie im Urtext: „Du sagst es“, sondern: „Das hat man dir erzählt.“ Und im Fortgang der Verhandlung fragt Pilatus weiter: „Was soll ich denn mit dem anfangen, den ihr mir als
Karl Fischer: Das Volkstestament der Deutschen Christen. Bekennende Evangelisch-luth. Kirche Sachsens, Dresden 1940, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Volkstestament_der_Deutschen_Christen.pdf/11&oldid=- (Version vom 28.7.2023)