jedes Durchschnittsgehirn fest angesetzt. Also: die Anschaulichkeit allein wäre ein schlechter Maßstab für den Wert einer neuen Theorie. Erklärt doch Einstein selbst, er habe Wochen gebraucht, bis ihm seine Resultate nicht mehr widersinnig vorgekommen seien.
Das gilt auch für den Einsteinschen Satz: Bewegte Körper schrumpfen für den ruhenden Beobachter zusammen. Die Gleichungen drängen den Satz zwingend auf – die gefrorene Erfahrung lehnt ihn entrüstet ab. Versuchen wir einen vermittelnden Weg der Anschauung wieder bei einem Grenzfall – vielleicht daß die vereiste Erfahrung zu tauen beginnt:
Ein starrer Stab ruhe vor mir. Ich messe ihn. Seine Länge geht von A bis B, also so: A — B. Nun bewege sich der Stab sehr rasch, aber gleichmäßig von mir fort längs einer Bahn, die dicht mit Beobachtern besetzt ist. Diese Beobachter sollen (theoretisch) genau gleichgehende Uhren besitzen. Ich gebe die Weisung aus: “Punkt drei Uhr kommen der Stabanfang und das Stabende bei je einem Beobachter vorbei. Markiert blitzschnell diese beiden Punkte auf der Flugbahnstrecke, die der vorbeifliegende Stab zurücklegt!” Die Weisung werde ausgeführt. Ich messe den Abstand der beiden Markierungskerben in Ruhe nach und finde: die Länge des bewegten Stabes war zur Messungszeit nicht mehr =AB. Sie hat sich für mich verkürzt gegenüber der Länge des ruhenden Stabes. In welchem Maße? Gesetzt den Fall, der Stab flöge mit Lichtgeschwindigkeit, also 300 000 Kilometer pro Sekunde, an mir vorbei und vor mir her, so müßte seine Länge auf einen Punkt, also =0 zusammenschrumpfen. Denn glitte mein Blick ihm nach, ich könnte, während er mein Gesichtsfeld passiert und weiterhin, gerade noch, sagen wir, den Punkt A erreichen und festhalten, weil der Lichtstrahl aus meinem Auge ebenso schnell den Raum durchdringt, wie der Stab fliegt. Ewig erfolglos bemühte sich mein Blick, den Stab entlang zu anderen Punkten zu gleiten. Solange der Stab fliegt, ist er für mich auf einen Punkt zusammengeschrumpft. Offenbar läge so die beobachtete Länge des mit geringerer als Lichtgeschwindigkeit vorbeifliegenden Stabes zwischen einem Punkt und der Länge des ruhenden Stabes. Käme der Stab plötzlich zum Stillstand, er hätte wieder seine alte Länge AB. Für Ueberlichtgeschwindigkeiten schwänden Körper nicht nur zu flächenhaften Gebilden – sie verschwänden überhaupt aller Wahrnehmung. Die Ruhenden würden sie als nicht mehr vorhanden erklären. Oder, man könnte es auch so ausdrücken: sie würden die Dimension, die in ihrer Flugrichtung liegt, in eine uns unzugängliche Dimension hinausbauchen. Da dies außer der bisherigen Erfahrung läge, müssen wir also wieder annehmen, eine größere als die Lichtgeschwindigkeit ist undenkbar.
Ich resümiere: die Formen der von uns beobachteten Körper sind nicht starr, sondern schrumpfen und schwellen für den Beobachter mit ihrer Bewegung im Raume.
Freilich, praktisch in die Erscheinung tritt für uns dieser Formenfluß nicht. Unsere Erdgeschwindigkeiten sind zu klein dazu. Selbst die Geschwindigkeit von dreißig Kilometern pro Sekunde, womit die Erde um die Sonne schwingt, vermöchte die Erddicke für den außerhalb der Erde ruhenden Beobachter nur um sechseinhalb Zentimeter zu verkürzen. Um den gleichen Betrag haben wir bisher die Dimensionen unserer Erde, soweit wir sie an den Fixsternen maßen, zu kurz verbucht.
Dennoch ist ein nachprüfendes Experiment des Einsteinschen Satzes von der Relativität der Zeit innerhalb menschlicher Reichweite. Dies zur Beruhigung für jene, die mit der Logik allein nicht zufrieden sind, sondern denen erst das physikalische Experiment Gewißheit verschafft. Einstein teilte mit, daß die Kanalstrahlen (in Glasröhren rasch bewegte Moleküle), deren Schwingungen eine wunderbare astronomische Uhr darstellen, die Handhabe dazu bieten. In der allerletzten Zeit haben die Versuche von Bucherer und Hupka das Einsteinsche Relativitätsprinzip auch praktisch erwiesen.
Die Theorie führt ferner zu dem wichtigen Satz, daß die Masse eines Körpers von dessen Energieinhalt abhängig ist, allerdings in so geringem Maße, daß es ein Experiment wohl nie wird nachweisen können. Hierdurch wird der Satz von der Erhaltung der Materie umgestoßen oder, besser gesagt, mit dem Satz von der Erhaltung der Energie in einen einzigen verschmolzen. Nimmt die einem Körper mitgeteilte Kraft um zu, so nimmt die Masse um zu, wobei die Lichtgeschwindigkeit bedeutet.
Noch ein Wort: Ob für diese Forschungen ein Platz in der dem großen Publikum zugänglichen Presse sein soll? Ich glaube ja. Die Mitwirkung der gebildeten Laien für das kritische Nachdenken neuer Entdeckungen ist wertvoll, ja unschätzbar. Forscher ohne Dünkel wissen das. Ohne die breiten Laienmassen wird kein Forschungsergebnis lebendig. Es stürbe ab. Es setzte keine Ringe an am Baume menschlicher Erkenntnis. Zu oft wird dem Berufsgelehrten eine neue Aussicht und Einsicht durch vorgefaßte Theorien verlegt. Der Laie ist nicht beschwert damit. Einstein bekannte mir: „Als ich die langen Jahre über dem Zeitproblem grübelte, war mir der Bücherpfeiler der einschlägigen optischen Literatur darüber nur wenig bekannt. Das war mein Glück. Ich hätte mich sonst kaum aus den vorgefahrenen Rinnen gelöst.”
Fritz Müller-Partenkirchen: Das Zeitproblem. , Berlin 1911, Seite 3 (Spalte 3). Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Zeitproblem_(1911).djvu/7&oldid=- (Version vom 17.1.2024)