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die Seeen und Teiche sind, und sie erblickt! Wenn sie ihre schönen Goldlocken fliegen läßt, wenn sie ihre weissen Arme nach ihm ausstreckt, wenn sie ihn einmal anlächelt, wenn sie singt, ja wenn nur ein Laut über ihre zauberischsüßen Lippen klingt, so ist er verloren. Das Allergefährlichste soll aber seyn, wenn sie ihre grünlichen Goldlocken wehen läßt und mit ihrem lieblichen Köpfchen mit halb lächelnder halb trauriger Gebehrde da heraus guckt, als sprache sie: Komm! komm! und tröste mich! Sie ist in ihrer Liebe sehr heftig und feurig und thut dem, was sie lieb hat, alle mögliche Süßigkeit und Anmuth an, die sie nur ersinnen und erdenken kann, schenkt ihm auch alle köstlichsten Gaben, die sie nur hat; aber sie ist leicht und wankelisch und trügerisch wie das leichte und falsche Element, worin sie wohnt, und kalt und stolz wie ihr Wasser. Keiner hat sich ihrer Liebe je länger als zwei Jahre erfreuet. Dann zieht sie ihn in die nasse Tiefe mit sich hinab, damit er nicht sagen könne: Ich habe bei der schönen Seekönigin geschlafen. Da sitzen nun viele Tausende in dem dunkeln schauerlichen Abgrund und ihre Klagen in der Tiefe das sind die fabelhaften Glocken der Menschen, die zu gewissen Zeiten so wehmüthig und zauberisch aus dem Grunde der Seeen heraufklingen.

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Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Erster Theil. Berlin 1818, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_1_438.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)