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stiller – ein „gute Nacht“ höre ich zuweilen und das Zuschlagen der Haustüre. Die Lichter in den Fenstern erlöschen. Dort über die niedrigen Dächer ragt ein hohes Haus. Dort im vierten Stock entkleidet sich ein Mädchen bei offenem Fenster. Das Viereck des Fensterrahmens ist voll des gelben Lampenlichtes und ich sehe eine weiße Gestalt, die vor einem Spiegel steht und ihr langes, sehr schwarzes Haar emporhebt, um es auf dem Scheitel aufzubinden. Dann erlöscht auch dieses Licht und ich bin mit meinem Buch allein.

Ich habe mir für das Manuskript ein sehr edles Papier angeschafft, leicht gelblich getönt glanzlos, die heraldische Lilie als Wasserzeichen. Auf dem Umschlag habe ich mit veilchenfarbiger Tinte den Titel geschrieben „die goldene Kette“ darunter – den Vers der Ilias, über den Plato so geheimnisvoll spricht: „Auf, wohlan, ihr Götter, versucht, daß ihr all’ es erkennet – Eine goldene Kette befestigend oben am Himmel – Hängt dann all’ ihr Götter euch an und ihr Göttinnen alle, – Dennoch zöget ihr nie vom Himmel herab auf den Boden!“ – So muß es gehen.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Keyserling: Seine Liebeserfahrung. In: Bunte Herzen. Fischer, Berlin 1909, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Bunte_Herzen_(Keyserling).djvu/161&oldid=- (Version vom 31.7.2018)