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Ich wartete. Ich stand da und horchte auf das leise Schluchzen, mir war, als nähme mein Atem auch den langen, stoßweißen Takt des Weinens an. „Jetzt“, dachte ich, aber ich sagte und tat nichts. Warum? Nun versteh’ ich es. Diesem hilflos vor mir schluchzenden Kinde gegenüber durfte ich nichts tun – so nicht. Aber noch ein solcher Augenblick und es geschah, was doch geschehen muß. Ich durchlebte ihn, diesen Augenblick. – Stumm würde ich ihre Hand fassen – eine kühle Hand, die feucht von Tränen ist – und wir würden zu der Veranda hinauf steigen und vor den einsamen, alten Mann hintreten und ihm sagen: „Wir können nicht anders“ – und in all die Süßigkeit unserer Liebe würde sich die Bitterkeit unserer Grausamkeit und unseres Mitleids mischen.

„So, nun ist es vorüber“, sagte Claudia, „gehen wir.“

Wir gingen weiter.

„Ich danke Ihnen“, fuhr Claudia fort. „So was ist dumm. Wir wollen’s den anderen nicht sagen.“

„Ach nein. Vor einem anderen hätte ich mich so geschämt – aber Sie sind so gut, so – so wie eine Tante.“

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Keyserling: Seine Liebeserfahrung. In: Bunte Herzen. Fischer, Berlin 1909, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Bunte_Herzen_(Keyserling).djvu/225&oldid=- (Version vom 31.7.2018)