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kann, einen Geist, der in seinen Aeusserungen unabhängig von diesen Naturgewalten ist, der in seiner ganzen Vollkommenheit nur sich selbst Gesetze giebt.

Die einfache empirische Erkenntniss der Natur, sie drängt uns mit unwiderstehlicher Kraft die Ueberzeugung auf, dass dieses Etwas nicht die Grenze ist, über welche hinaus nichts ihm Aehnliches und Vollkommeneres mehr besteht; unserer Wahrnehmung sind seine niedrigeren und niedrigsten Abstufungen allein zugänglich, und wie eine jede andere Wahrheit in der inductiven Naturforschung, begründet sie die Existenz eines höheren, eines unendlich höchsten Wesens, für dessen Anschauung und Erkenntniss die Sinne nicht mehr zureichen, das wir nur durch die Vervollkommnung der Werkzeuge unseres Geistes in seiner Grösse und Erhabenheit erfassen.

Die Kenntniss der Natur ist der Weg, sie liefert uns die Mittel zur geistigen Vervollkommnung.

Die Geschichte der Philosophie lehrt uns, dass die weisesten Menschen, die grössten Denker des Alterthums und aller Zeiten, die Einsicht in das Wesen der Naturerscheinungen, die Bekanntschaft mit den Naturgesetzen als ein ganz unentbehrliches Hülfsmittel der Geistescultur angesehen haben. Die Physik war ein Theil der Philosophie. Durch die Wissenschaft macht der Mensch die Naturgewalten zu seinen Dienern, in dem Empirismus ist es der Mensch, der ihnen dient; der Empiriker wendet, wie bewusstlos, einem untergeordneten Wesen sich gleichstellend, nur einen kleinen Theil seiner Kraft dem Nutzen der menschlichen Gesellschaft zu. Die Wirkungen regieren seinen Willen, während er durch Einsicht in ihren innern Zusammenhang die Wirkungen beherrschen könnte.

Man wird diese Einleitung nicht unpassend, sondern an ihrem Platze finden, wenn ich in einem der folgenden Briefe versuche, eines der merkwürdigsten Naturgesetze, welches der neueren Chemie zur Grundlage dient, zu erläutern.

Wenn dem vergleichenden Anatomen ein kleines Knochenstück, ein Zahn, zu einem Buche wird, aus dem er uns die Geschichte des Geschöpfes einer untergegangenen Welt erzählt, seine Grösse und Gestalt beschreibt, das Medium, in dem es lebte und athmete, seine Nahrung, ob Pflanze oder Thier, seine Werkzeuge der Fortbewegung uns zeigt, so würde alles dies das Spiel einer regellosen Phantasie genannt werden können, wenn dieses kleine Knochenstück, dieser Zahn, einer Laune des Zufalls, einer Willkür seine Form und Beschaffenheit verdankte. Alles dies ist dem Anatomen möglich, weil ein jeder Theil bestimmten Gesetzen seine Form verdankt, weil, die Form des Theils einmal erkannt, es das Gesetz ist, was das Ganze construirt. Nicht minder wunderbar mag es Vielen scheinen, dass der Chemiker aus dem bekannten Gewichtsverhältniss, in dem sich ein einzelner Körper mit einem zweiten verbindet, die Gewichtsverhältnisse erschliesst und festsetzt, in denen der erste Körper mit allen übrigen, mit zahllosen andern Körpern sich verbindet. Die Entdeckung dieser Gesetze, denen sich alle Vorgänge, die Zahl und Mass umfassen, in der organischen sowohl wie in der Welt der Mineralien unterordnen, die alle chemischen Processe regeln und beherrschen, ist der anerkannt wichtigste und in seinen Folgen reichste Erwerb dieses Jahrhunderts.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_023.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)