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dass wir uns über nichts mehr wundern. Wir befestigen die Sonnenstrahlen auf Papier, und senden unsere Gedanken in die grössten Entfernungen mit der Schnelligkeit des Blitzes. Wir schmelzen Kupfer im Wasser und giessen daraus Bildsäulen in der Kälte. Wir lassen Wasser, sogar Quecksilber, in rothglühenden Tiegeln zu Eis, zu festem hämmerbaren Quecksilber gefrieren, und halten es für möglich, ganze Städte aufs glänzendste zu beleuchten mit Lampen ohne Flamme, ohne Feuer, und zu denen die Luft keinen Zutritt hat. Wir stellen eine der kostbarsten Mineralsubstanzen, den Ultramarin, fabrikmässig dar, und glauben, dass morgen oder übermorgen jemand ein Verfahren entdeckt, aus einem Stück Holzkohle einen prächtigen Diamanten, aus Alaun Sapphire oder Rubine, aus Steinkohlentheer den herrlichen Farbstoff des Krapps oder das wohlthätige Chinin, oder das Morphin zu machen; es sind dies lauter Dinge, welche entweder eben so kostbar, oder weit nützlicher sind wie das Gold.

Mit der Entdeckung dieser Dinge beschäftigen sich Alle, und doch kein Einzelner. Es beschäftigen sich alle Chemiker damit, in so fern sie die Gesetze der Veränderungen und Umwandlungen der Körper erforschen, und es beschäftigt sich kein Einzelner damit, in so fern keiner die Erzeugung des Diamants oder des Chinins zur Aufgabe seines Lebens wählt. Gäbe es einen solchen Mann, ausgerüstet mit den erforderlichen Kenntnissen, und dem Muth und der Beharrlichkeit der alten Goldmacher, er würde Aussicht haben diese Aufgabe zu lösen. Nach den neuesten Entdeckungen über die organischen Basen ist es uns gestattet, an alles dieses zu glauben, ohne Jemand das Recht einzuräumen, uns zu verlachen.

Die Wissenschaft hat uns bewiesen, dass der alle diese Wunder vollbringende Mensch aus verdichteter Luft besteht, dass er von unverdichteter und verdichteter Luft lebt, und sich in verdichtete Luft kleidet, dass er seine Nahrung mit Hülfe von verdichteter Luft zubereitet, und damit die grössten Lasten mit der Schnelligkeit des Windes fortbewegt. Das Seltsamste hierbei ist, dass tausende dieser auf zwei Beinen gehenden Gehäuse von verdichteter Luft sich zuweilen des Zuflusses und des Erwerbs von verdichteter Luft wegen, die sie zur Ernährung und Kleidung bedürfen, oder ihrer Ehre und Macht wegen, in grossen Schlachten durch verdichtete Luft vernichten, und dass viele die Eigenthümlichkeiten des unkörperlichen, selbstbewussten, denkenden und empfindenden Wesens, in diesem Gehäuse, als eine einfache Folge von dessen innerem Bau und Anordnung seiner kleinsten Theilchen ansehen, während die Chemie unzweifelhaften Beweis liefert, dass, was diese allerletzte feinste, nicht mehr von den Sinnen wahrnehmbare Zusammensetzung betrifft, der Mensch identisch mit dem niedrigsten Thiere der Schöpfung ist.

Um aber auf die Alchemie zurückzukommen, so vergisst man in ihrer Beurtheilung nur allzusehr, dass eine Wissenschaft einen geistigen Organismus darstellt, in welchem, wie im Menschen, erst auf einer gewissen Stufe der Entwickelung das Selbstbewusstsein sich einstellt. Wir wissen jetzt, dass alle besonderen Zwecke der Alchemisten der Erreichung eines höheren Zieles dienten. Der Weg, der dazu führte, war offenbar der beste.

Um einen Palast zu bauen, sind viele Steine nöthig, welche gebrochen, und viele Bäume, welche gefällt und bebauen werden müssen. Der Plan kommt von Oben, nur der Baumeister kennt ihn.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_035.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)