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Partikeln, mit welchen sich jene zur Zeit zusammen befinden; Substanzen, deren Partikeln sich zu einander in dieser eigenthümlichen Beziehung befinden, nennt Brodie „„chemisch polare““. Hiernach würden sich zwei Stoffe nur dann mit einander verbinden, d. h. gegenseitige Anziehung äussern, wenn sie im chemisch polaren Zustande sich befinden. Silber oxydirt sich in der Luft und im gewöhnlichen Sauerstoff nicht, weil Sauerstoff und Silber bei Berührung nicht polar werden. In dem Chlorsilber ist das Silber chemisch positiv, das Chlor chemisch negativ, in dem Kaliumoxyd ist das Kalium chemisch positiv, der Sauerstoff chemisch negativ, wenn beide – Chlorsilber und Kali – zusammenkommen, so entsteht Silberoxyd.

Kupfer und Chlor verbinden sich beide mit Wasserstoff; die beiden ersteren sind ihrer chemischen Natur nach entgegengesetzt; der Wasserstoff ist nach Brodie im Chlorwasserstoff chemisch positiv, in der Kupferverbindung chemisch negativ. Wenn nun Chlorwasserstoff und Kupferwasserstoff (nach Wurtz) zusammen kommen, so entsteht Kupferchlorid und freier Wasserstoff in folgender Weise.

Wenn man nach dieser Ansicht die Vorgänge der Verbrennung betrachtet, so werden nach Brodie Phosphor und Sauerstoff, Bittermandelöl und Sauerstoff etc. im Moment der Berührung entgegengesetzt chemisch polar und der ozonisirte Sauerstoff könnte ein Rest des differenzirten Sauerstoffs sein, der mit dem Phosphor sich verbunden hat. Das gewöhnliche Sauerstoffgas würde hiernach ein mittleres sein, bestehend aus chemisch positiven und negativen Sauerstofftheilchen. Der weisse Phosphor könnte chemisch polarer, und der rothe könnte Phosphor (+P und –P) im indifferenten Zustande sein.

Ich halte es nicht für angemessen diesen Anwendungen von Brodie’s Theorie eine grössere Ausdehnung zu geben, da man sogleich auf Schwierigkeiten in der Erklärung stösst, die sich nur durch weitere Hypothesen lösen lassen; allein unsere gewöhnlichen Vorstellungen über die chemischen Kräfte sind so wenig entwickelt und unvollkommen, dass eine jede erweiternde Ansicht, auch wenn sie nur einige Fälle für sich hat, Berücksichtigung verdient.

Vor Allem dürfte in den Erscheinungen, welche der ozonisirte Sauerstoff in seiner Bildung und seinem Verhalten darbietet, die räthselhafte Wirkung des Lichtes und der Wärme ins Auge gefasst werden und so lange wir den Antheil, den das Licht in seiner Erzeugung und die Wärme in seiner Umwandelung besitzt, nicht näher zu bezeichnen vermögen, dürfte an eine Theorie dieser Erscheinungen kaum zu denken sein.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_121.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)