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in der Lage ihrer Elementartheilchen; die Wärme verursacht eine Ausdehnung, eine Raumvermehrung; im Anfang wirkt sie auf den Zusammenhang der Atome in den Gruppen ein; beim Erhitzen eines Zuckerkrystalls entfernen sich die Zuckeratome, in höherer Temperatur die Elemente der Zuckeratome von einander. Durch die Wärme wird das vorhandene Gleichgewicht in der Anziehung der Atome gestört, der flüssige und Gaszustand sind neue Gleichgewichtszustände zwischen der Wärme und Cohäsionskraft. In höheren Hitzgraden zersetzen sich die organischen Materien; die in einer gegebenen Temperatur entstehenden Producte sind unveränderlich bei dieser Temperatur, aber veränderlich in einer höheren. Einem bestimmbaren Temperaturgrad entspricht ein besonderer Gleichgewichtszustand zwischen der Wärme und der chemischen Kraft, welche die Elemente der organischen Atome zusammenhält.

Wir können ein Stück Zucker, auch wenn wir es noch so fein reiben, nicht flüssig machen, noch viel weniger können wir durch eine mechanische Gewalt ein Zuckeratom zersetzen, ein Kohlenstoff- oder Wasserstoffatom davon losreissen. Wir können in einer Zuckerlösung durch Schütteln Zuckeratome und Wasseratome neben einander hin und her bewegen, aber die Elemente derselben wechseln damit ihren Platz nicht.

In der Fäulniss und Gährung wechseln nicht die Atomgruppen, sondern die Atome in den Gruppen ihren Ort, und es ist diese innere Bewegung in faulenden Körpern, welche einen Ortswechsel der Atome in gährungsfähigen Körpern hervorruft, wenn die Kraft, welche ihre Elemente zusammenhält kleiner ist, als die auf sie einwirkende Thätigkeit, die sie zu ändern strebt.

Der Einfluss der Temperatur auf die in der Gährung entstehenden Producte ist höchst merkwürdig. Der an Zucker reiche Saft der gelben Rüben, Runkelrüben, Zwiebeln, in gewöhnlicher Temperatur der Gährung überlassen, liefert dieselben Producte, wie der Traubensaft; in einer höheren Temperatur ändert sich der ganze Umsetzungsprocess. Man nimmt eine weit schwächere Gasentwickelung wahr, es entsteht kein Alkohol. Untersucht man zu Ende der Gährung die Flüssigkeit, so findet sich kein Zucker mehr vor; aus seinen Elementen ist eine reichliche Menge Milchsäure, neben derselben ein dem arabischen Gummi ganz gleicher Körper, und überdies als das merkwürdigste Product eine leicht krystallisirbare Substanz gebildet worden, welche in Eigenschaften und Zusammensetzung identisch mit dem Hauptbestandtheil der Manna ist.

Alkohol und Kohlensäure sind die Producte der Umsetzung der Zuckeratome in gewöhnlicher, Kohlensäure, Wasserstoff, Mannit, Milchsäure, Gummi sind Producte seiner Gährung in höherer Temperatur. Die Gährungsweise des Milchzuckers in der Milch, bei seinem Uebergang in Milchsäure findet vorzugsweise in gewöhnlicher Temperatur statt; bei 24 bis 36 Grad nimmt der Käse in der Milch die Eigenschaften der gewöhnlichen Hefe an und es stellen sich in dieser höheren Temperatur in dem Milchzucker zwei auf einander folgende Umsetzungsprocesse ein; er verwandelt sich zuerst in Traubenzucker, und nachdem dies vor sich gegangen ist, zerfällt dieser in Berührung mit dem Käse in Alkohol und Kohlensäure.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_134.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)