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sie an dem Stoffwechsel nehmen, dass sie in vielen Fallen dadurch, dass sie die Richtung und Stärke der im Organe wirksamen Thätigkeit ändern, beschleunigen, verlangsamen oder aufhalten, einen Einfluss auf die Qualität des Blutes ausüben.

Durch die Erkenntniss der Ursache der Entstehung und Fortpflanzung der Fäulniss in organischen Atomen ist zuletzt die Frage über die Natur vieler Contagien und Miasmen einer einfachen Lösung fähig; sie reducirt sich auf folgende:

Giebt es Thatsachen, welche beweisen, dass gewisse Zustände der Umsetzung oder Fäulniss einer Materie sich ebenfalls auf Theile oder Bestandtheile des lebendigen Thierkörpers fortpflanzen, dass durch die Berührung mit dem faulenden Körper in diesen Theilen ein gleicher oder ähnlicher Zustand herbeigeführt wird, wie der ist, in welchem sich die Theilchen des faulenden Körpers befinden? Diese Frage muss entschieden bejaht werden.

Es ist Thatsache, dass Leichen auf anatomischen Theatern häufig in einen Zustand der Zersetzung übergehen, der sich dem Blute im lebenden Körper mittheilt; die kleinste Verwundung mit Messern, die zur Section gedient haben, bringt einen oft lebensgefährlichen Zustand hervor[1]. Der von Magendie beobachteten Thatsache, dass in Fäulniss begriffenes Blut, Gehirnsubstanz, Galle, faulender Eiter etc., auf frische Wunden gelegt, Erbrechen, Mattigkeit und nach längerer oder kürzerer Zeit den Tod bewirken, ist bis jetzt nicht widersprochen worden. (S. Anhang 3.)

Es ist ferner Thatsache, dass der Genuss mancher Nahrungsmittel wie Fleisch, Schinken, Würste in gewissen Zuständen der Zersetzung, in dem Leibe gesunder Menschen die gefährlichsten Krankheitszustände, ja den Tod nach sich ziehen. (Anhang Nr. 4.)

Diese Thatsachen beweisen, dass eine im Zustand der Zersetzung begriffene thierische Substanz einen Krankheitsprocess im Leibe gesunder Individuen hervorzubringen vermag. Da nun unter Krankheitsproducten nichts anderes verstanden werden kann, als Theile oder Bestandtheile des lebendigen Körpers, die sich in einem von dem gewöhnlichen abweichenden Zustand der Form und Beschaffenheitsänderung befinden, so ist klar, dass durch solche Materien, so lange sich dieser Zustand noch nicht vollendet hat, die Krankheit auf ein zweites, drittes u. s. w. Individuum wird übertragen werden können.

Wenn man noch überdies in Betracht zieht, dass alle diejenigen Substanzen, welche die Fortpflanzungsfähigkeit der Contagien und Miasmen vernichten, gleichzeitige Bedingungen sind zur Aufhebung aller Fäulniss und Gährungsprocesse, dass unter dem Einfluss empyreumatischer Substanzen, wie Holzessig z. B., welche der Fäulniss kräftig entgegenwirken, der Krankheitsprocess in bösartig eiternden Wunden gänzlich geändert wird, wenn in einer Menge von contagiösen Krankheiten, namentlich im Typhus, freies und gebundenes Ammoniak, in der Luft, im Harn und in den

  1. Fälle, in denen Personen dieser furchtbaren Vergiftung zum Opfer fallen, sind nicht selten; so noch vor kurzer Zeit Dr. Kolletschka in Wien, Dr. Bender in Frankfurt a. M.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_157.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)