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Es ist unmöglich, sich dieser Ansicht hinzugeben, wenn man bedenkt, dass die Gegenwart mikroskopischer Thiere in faulenden Stoffen ganz zufällig ist, dass man ihr Erscheinen meistens durch Ausschluss des Lichtes verhindern kann, dass diese Stoffe in Fäulniss und Verwesung ohne alle Mitwirkung derselben versetzt werden können, dass in tausend Fällen im faulenden Harn, Käse, Galle, Blut kein Thier dieser Art wahrgenommen wird, dass sie in andern erst in einer gewissen Periode erscheinen, wo die Gährung oder Fäulniss längst begonnen hat.

Die Fäulniss von der Gegenwart mikroskopischer Thiere abzuleiten ist gerade so, wie wenn man den Käfern, die in Beziehung auf ihre Nahrung auf Thierexcremente angewiesen sind, oder den Würmern, die man im Käse findet, den Zustand der Zersetzung der Excremente oder des Käses zuschreiben wollte

Die Gegenwart mikroskopischer Thiere, die man oft in so ungeheurer Anzahl in verwesenden Materien wahrnimmt, kann an sich nicht auffallend sein, da sie offenbar in denselben die Bedingungen zu ihrer Ernährung und Entwickelung vereinigt vorfinden; ihr Erscheinen ist nicht wunderbarer, als die Züge der Salmen aus dem Meere nach den Flüssen, oder das Entstehen der Salzpflanzen in der Nähe der Salinen; der einzige Unterschied liegt ja nur darin, dass wir in den letzten Fällen ihren Weg verfolgen können, während sich die Keime der Pilze und Eier der Infusorien, ihrer ausserordentlichen Kleinheit und des ungeheuren Luftmeeres wegen, durch welches sie verbreitet werden, unserer Beobachtung entziehen. Sie müssen überall zum Vorschein kommen, wo der Entwickelung des Keimes oder des Eies keine Hindernisse entgegenstehen.

Sicher ist, dass durch ihre Gegenwart die Verwesung ausserordentlich beschleunigt wird; ihre Ernährung setzt ja voraus, dass sie die Theile des todten Thierleibes zu ihrer eigenen Ausbildung verwenden, seine raschere und schnellere Zerstörung muss die unmittelbare Folge davon sein. Wir wissen, dass aus einem Individuum in sehr kurzer Zeit viele Tausende entstehen, dass ihr Wachsthum und ihre Entwickelung in gewisse Grenzen eingeschlossen sind. Haben sie eine gewisse Grösse erreicht, so nehmen sie an Umfang nicht mehr zu, ohne dass sie deshalb aufhören, Nahrung zu sich zu nehmen. Was wird nun – so muss man fragen – aus dieser Nahrung, die ihren Leib nicht mehr vergrössert? Muss sie nicht in ihrem Organismus eine ähnliche Veränderung erleiden, welche ein Stück Fleisch oder Knochen erfährt, das wir einem ausgewachsenen Hunde geben, dessen Körpergewicht davon nicht mehr vermehrt wird? Wir wissen genau, dass die Nahrung des Hundes zur Erhaltung der Lebensprocesse gedient hat und dass ihre Elemente in seinem Leibe die Form von Kohlensäure und Harnstoff erhalten, welcher letztere ausserhalb mit Schnelligkeit in Kohlensäure und Ammoniak zerfällt. Diese Nahrung erfährt also in dem Organismus dieselbe Veränderung, wie wenn wir sie trocken in einem Ofen verbrannt hätten, sie verweset in seinem Körper.

Ganz dasselbe geht in den verwesenden Thiersubstanzen vor sich; sie dienen den mikroskopischen Thieren zur Nahrung, in deren Leibern ihre Elemente verwesen; sie sterben wenn die Nahrung verzehrt ist, und ihre Leiber gehen in Fäulniss und Verwesung über, und mögen vielleicht

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_163.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)