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Ein Hungernder friert. Jedermann weiss, dass die Raubthiere der nördlichen Klimate an Gefrässigkeit weit denen der südlichen Gegenden voranstehen.

In der kalten und temperirten Zone treibt uns die Luft, die ohne Aufhören den Körper zu verzehren strebt, zur Arbeit und Anstrengung, um uns die Mittel zum Widerstande gegen ihre Einwirkung zu schaffen, während in heissen Klimaten die Anforderung zur Herbeischaffung von Speise bei weitem nicht so dringend sind.

Unsere Kleider sind in Beziehung auf die Temperatur des Körpers Aequivalente für die Speisen; je wärmer wir uns kleiden, desto mehr vermindert sich bis zu einem gewissen Grade das Bedürfniss zu essen, eben weil der Wärmeverlust, die Abkühlung und damit der Ersatz durch Speisen kleiner wird. Gingen wir nackt, wie die Indianer, oder wären wir beim Jagen und Fischen denselben Kältegraden ausgesetzt wie der Samojede, so würden wir ein halbes Kalb und noch obendrein ein Dutzend Talglichter bewältigen können, wie uns warmbekleidete Reisende mit Verwunderung erzählt haben; wir würden dieselbe Menge Branntwein oder Thran ohne Nachtheil geniessen können, eben weil ihr Kohlen- und Wasserstoffgehalt dazu dient, um ein Gleichgewicht mit der äusseren Temperatur hervorzubringen.

Die Menge der zu geniessenden Speisen richtet sich, nach den vorhergehenden Auseinandersetzungen, nach der Anzahl der Pulsschläge und Athemzüge, nach der Temperatur der Luft und nach dem Wärmequantum, das wir nach aussen hin abgeben. Keine isolirte entgegenstehende Thatsache kann die Wahrheit dieses Naturgesetzes ändern.

Die Abkühlung des Körpers, durch welche Ursache es auch sei, bedingt ein grösseres Maass von Speise. Der blosse Aufenthalt in freier Luft, gleichgültig ob im Reisewagen oder auf dem Verdeck von Schiffen, erhöht durch Strahlung und gesteigerte Verdunstung den Wärmeverlust, selbst ohne vermehrte Bewegung; er zwingt uns, mehr als gewöhnlich zu essen. Dasselbe muss für Personen gelten, welche gewohnt sind, grosse Quantitäten kaltes Wasser zu trinken, welches auf 37° erwärmt wieder abgeht; – es vermehrt den Appetit, und schwächliche Constitutionen müssen durch anhaltende Bewegung den zum Ersatz der verlorenen Wärme nöthigen Sauerstoff dem Körper hinzuführen. Starkes und anhaltendes Sprechen und Singen, das Schreien der Kinder, feuchte Luft, alles dies übt einen bestimmten nachweisbaren Einfluss auf die Menge der zu geniessenden Speise aus.

Der ungleiche Wärmeverlust im Sommer und Winter, in einem warmen oder kalten Klima, ist nicht die einzige der Bedingungen, welche ungleiche Masse von Nahrung nöthig machen; es giebt noch andere, welche einen ganz bestimmten Einfluss auf die Menge der zur Erhaltung der Gesundheit nothwendigen Speise ausüben.

Hierzu gehört namentlich die körperliche Bewegung und alle Art von körperlicher Arbeit und Anstrengung. Der Verbrauch an mechanischer Kraft durch den Körper ist immer gleich einem Verbrauch von Stoff in dem Körper, welcher durch die Speisen ersetzt werden muss. Dem Thiere muss, wenn es arbeitet, ein gewisses Quantum von Futter zugesetzt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_222.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)