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des Kalkhydrats beruht auf dessen grossem Absorptionsvermögen für kohlensaures Gas; in einem Raum, in welchem Kohlensäure enthalten ist, wird dieses Gas durch Kalkhydrat, welches auf einem Bret dünn ausgebreitet liegt, sehr rasch hinweggenommen; 1 Cubikfuss hess. Kalkhydrat (welcher feucht 18 bis 20 Pfund wiegt und 66 Procent Kalk enthält) absorbirt, um in kohlensauren Kalk überzugehen, über 1100 Liter (70 hess. oder 38,8 engl. Cubikfuss) kohlensaures Gas. In dem oben erwähnten kleinen Raume würde ein Mensch, wenn die gebildete Kohlensäure durch einige Pfunde Kalkhydrat von Anfang an hinweggenommen und ihre schädliche Wirkung in dieser Weise beseitigt würde, drei- bis viermal längere Zeit leben können.

Wenn man sich denkt, dass ein solcher Raum nicht hermetisch von der äusseren Luft abgeschlossen sei, so würde der Platz der absorbirten Kohlensäure sogleich ausgefüllt werden von einem gleichen Volum eindringender frischer Luft.

Die einzige Unbequemlichkeit, welche die Anwendung des Kalkhydrats mit sich führt, ist, dass mit der Absorption der Kohlensäure und ihrer Verbindung mit dem Kalk das Wasser des Kalkhydrats frei wird und zum Theil verdunstet, so dass man bald in einer mit Wasserdampf gesättigten Atmosphäre athmet. Den Personen, welche ein neugebautes Hans beziehen, ist diese Unannehmlichkeit wohl bekannt; es zeigt sich darin in den ersten Monaten, besonders auffallend in den Wintermonaten, ein Uebermass von Feuchtigkeit, welche an Fenstern und den kalten Wänden in Tropfen verdichtet. Diese Erscheinung nimmt man in Häusern wahr, welche jahrelang der trocknenden Wirkung der Luft ausgesetzt gewesen sind, und immer erst dann, wenn sie bewohnt werden; sie rührt nicht von nässender Feuchtigkeit in den Mauern, sondern von dem im Mörtel enthaltenen trockenen Kalkhydrat her, welches die 24 Procent Wasser, welche es in chemischer Verbindung enthält, als nässende Feuchtigkeit erst abgiebt, wenn demselben, wie dies in von Menschen bewohnten Räumen in reichlichem Maasse geschieht, Kohlensäure zu einem Uebergang in kohlensauren Kalk dargeboten wird. Durch Verbrennen von Holzkohlen in offenen Oefen bei geschlossenen Fenstern, vor dem Beziehen der Wohnräume neuer Häuser lässt sich dieser Uebelstand wirksam beseitigen.

Die Fortdauer des Lebens und die Erhaltung der Gesundheit und der Temperatur des Menschen steht in der innigsten Beziehung zu dem Respirationsprocess, dessen volle Wirksamkeit abhängig ist von der constanten Zusammensetzung der atmosphärischen Luft. Wenn diese durch irgend eine Ursache vorübergehend oder dauernd sich ändert, so zeigt sich der Einfluss dieser Aenderung in einer vorübergehenden oder dauernden Störung aller Lebensfunctionen.

Der Aufenthalt in niedrig gelegenen Gegenden, in denen die Luft stagnirt, an feuchten Orten, wo sich durch Verwesungsprocesse Quellen von Kohlensäure bilden, oder in einer Luft, welche bei einer hohen Temperatur mit Feuchtigkeit gesättigt ist, ist längst als die nächste Ursache vieler Krankheiten von den Aerzten erkannt; in Schlafzimmern, in welchen sich Pflanzen befinden, welche während der Nacht Sauerstoff absorbiren und Kohlensäure aushauchen, in geschlossenen Räumen, in welchen Verbrennungsprocesse vor sich gehen, in denen z. B. viele Lichter

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_234.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)