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Die Fleischfresser sind im Allgemeinen stärker, kühner, kriegerischer als die pflanzenfressenden Thiere, die ihre Beute werden; in gleicher Weise unterscheiden sich die Nationen, welche von Vegetabilien leben, von denen, deren Hauptnahrungsmittel aus Fleisch besteht.

Wenn die Stärke der Individuen in der Summe von Kraftwirkungen besteht, die sie zur Ueberwindung von Widerständen ohne Nachtheil für ihre Gesundheit täglich hervorbringen können, so steht dieselbe offenbar in directem Verhältniss zu den plastischen Bestandtheilen ihrer Nahrung. Die Völker, die sich von Weizen und Roggen nähren, sind in diesem Sinne stärker als die Reis- und Kartoffelesser, und diese stärker als die Couzcouz-, Maniok-, Cassave-, Taro-essenden Neger.

Andere Verhältnisse bestehen für die Respirationsmittel; sie unterscheiden sich vorzüglich durch die Schnelligkeit und Dauer ihrer Wirkungen.

Es dauert Stunden, bis das Stärkmehl des Brodes im Magen und den Eingeweiden löslich in das Blut gelangt und verwendbar geworden ist; der Milchzucker und Traubenzucker bedürfen einer Vorbereitung durch die Verdauungswerkzeuge nicht mehr; sie gehen rascher in das Blut über; die Wirkung des Fettes ist am langsamsten, sie hält aber weit länger an; der Weingeist ist unter allen das am raschesten wirkende Respirationsmittel.

Durch seinen Gehalt an Alkalien, an organischen Säuren und gewissen anderen Stoffen, welche die Chemie noch näher zu bezeichnen hat, unterscheidet sich der Wein und überhaupt die gegohrenen Pflanzensäfte von dem Branntwein; das Bier ist eine Nachahmung des Weins. Der Branntwein besteht aus Wasser und einem Bestandtheil des Weins.

Vermöge der ihm eigenthümlichen Bestandtheile enthält der Wein in seiner Mischung eine Anzahl von Bedingungen, durch deren Vereinigung im Leibe des Menschen die Folgen der durch die Wirkung des Alkohols auf das Nervensystem gesteigerten Functionen des Rückenmarks und Gehirns nach einer gewissen Zeit mehr oder weniger ausgeglichen werden, so dass also der Genuss von Wein weit weniger Nachtheile in seinem Gefolge hat, als der des Branntweins.

Der Handelswerth des Weins steht in geradem Verhältniss zu seinen unmittelbaren Wirkungen und im umgekehrten zu seinen Nachwirkungen[1]; unter gleichen Verhältnissen ist sein Preis um so höher, je vollkommener seine Wirkungen unschädlich gemacht werden durch entsprechende Steigerung des Secretionsprocesses der Lunge und der Nieren.

Der Weingeist kommt bei der Werthbestimmung stets in Betracht; aber bei den edlen Weinen steht der Preis in keinem Verhältniss zum Alkoholgehalt, weit eher im Verhältniss zu seinen nicht flüchtigen Bestandtheilen[2].

  1. Die Nachwirkungen des Weins bezeichnet man in Deutschland mit dem Worte „Katzenjammer“.
  2. Nach ihrem Preis geordnet enthalten die folgenden Rheinweine
    an Alkohol an festem Rückstand
    Steinberg 1846er 10,87 10,55 (Fresenius.)
    Markobrunn " 11,14 5,18
    Hattenheim " 10,71 4,21
    Steinberg 1822er 10,87 9,94 (Geiger.)
    Rüdesheim " 12,01 5,39
    Markobrunn " 11,6 5,10
    Geisenheim " 12,6 3,06

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_306.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)