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Die Blume oder das Bouquet des Weins hat nur in so fern Einfluss auf den Preis, als sie der Anzeiger aller seiner Wirkungen zusammengenommen ist.

Vor allem ausgezeichnet durch ein Minimum von schädlicher Nachwirkung sind die edlen Rheinweine und manche Bordeauxweine; es ist kaum glaublich, welche Quantitäten Wein am Rhein von Individuen jedes Alters genossen werden, ohne wahrnehmbare Nachtheile für die Gesundheit des Geistes und Körpers; Gicht und Steinkrankheiten sind nirgends seltener als in der von der Natur so bevorzugten Gegend des Rheingaues; in keiner Gegend Deutschlands haben die Apotheken verhältnissmässig einen so niedern Preis als in den reichen Städten des Rheins; denn der Wein gilt dort als die Universalarznei für Gesunde und Kranke, als die Milch für die Greise. (Siehe Anhang.)

Seinem Respirationswerth nach steht der Alkohol dem Fett am nächsten; sein Genuss zieht eine entsprechende Verminderung stärkmehl- und zuckerreicher Nahrungsmittel nach sich; er ist unverträglich mit Fett.

Dem Preise nach sind Alkohol und alkoholhaltige Getränke die kostspieligsten Respirationsmittel; was sie im Körper als solche leisten, kann in stärkmehl- und zuckerreichen Nahrungsmitteln mit dem vierten bis fünften Theil ihres Preises gekauft werden.

Wie bei den Pflanzen und Thieren, so sollten die Nahrungsmittel des Menschen eine indifferente Beschaffenheit und weder eine chemische noch eine besondere Wirkung auf den gesunden Organismus besitzen, sie sollten weder den Umsatz beschleunigen noch verlangsamen.

Von diesem Gesichtspunkte aus ist der Genuss von Wein und alkoholhaltigen Getränken dem Menschen vollkommen entbehrlich; wenn auch nicht immer nachtheilig für die Gesundheit der Individuen, ist er stets schädlich für ihren Kraftverbrauch.

Diese Getränke beschleunigen den Stoffwechsel im Körper und haben einen Verbrauch an Kraft nach innen zur Folge, welche aufhört productiv zu sein, da sie nicht zur Ueberwindung äusserer Schwierigkeiten, d. h. zur Arbeit verwendbar ist[1].

  1. Beim Genuss von Leberthran verliert sich bei Personen, welche an den Weingenuss gewöhnt sind, die Neigung und der Geschmack am Wein.

    Seit dem Bestehen der Mässigkeitsvereine wurde es in vielen Haushaltungen Englands für billig erachtet, das Bier, das die Dienstboten täglich erhielten, wenn sie den Mässigkeitsvereinen beitraten und kein Bier mehr tranken, in Geld zu vergüten; aber es wurde von aufmerksamen Hausfrauen sehr bald wahrgenommen, dass der monatliche Brodverbrauch in auffallendem Verhältniss zunahm, so dass also das Bier zweimal bezahlt wurde, einmal in Geld und ein zweites Mal in einem Aequivalent von Brod.

    Bei Gelegenheit des Friedenscongresses in Frankfurt a. M. theilte mir der vormalige Besitzer des berühmten Hotel de Russie mit Ausdrücken der Verwunderung mit, dass damals an seiner Tafel an gewissen Speisen, namentlich Mehlspeisen, ein wahrer Mangel eingetreten sei, ein unerhörter Fall in einem Hause, in welchem die Menge und das Verhältniss der Speisen für eine gegebene Anzahl von Personen seit Jahren festgesetzt und wohlbekannt ist. Sein Haus war nämlich gefüllt mit Friedensfreunden, die alle den Mässigkeitsvereinen angehörten und keinen Wein tranken. Herr Sarg bemerkte, dass Personen, welche keinen Wein trinken, stets im Verhältniss mehr essen. In den Weinländern ist daher der Preis des Weines stets in dem Preis des Essens eingeschlossen, und es wird deshalb dort nicht für unbillig gehalten, an den Wirthstafeln den Wein zu bezahlen, auch wenn man ihn nicht trinkt.

    Shakespeare: König Heinrich IV., Act II. Scene 4. Prinz Heinrich: O, ungeheuer! Nur für einen halben Penny Brod zu dieser unbilligen Menge Sect!

    WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_307.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)