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neben prunkendem Reichthum, über die allgemeine Zunahme des Vagabunden- und Reisläuferthums eine einigermassen genügende Erklärung vergeblich sucht. Kein Wunder auch, dass Grote in seinem Doctrinarismus so weit geht, der Griechischen Staatslehre jener Zeit einen förmlichen Vorwurf daraus zu machen, dass sie nicht nur von einer Partei der „Reichen“, sondern auch der „Armen“ wisse, während doch nur von einem Gegensatz der oligarchischen Reichen und der demokratischen „Nichtreichen“ die Rede sein könne[1]. Eine Behauptung, die sich seltsam genug ausnimmt, wenn man ihr die Kritik gegenüberhält, welche die einsichtigen Kreise der damaligen Gesellschaft überhaupt an den politischen Zuständen des 4. Jahrhunderts geübt haben. – Ist es etwa eitel Schwarzseherei, wenn uns da von den Demagogen erzählt wird, welche die wirthschaftliche Nothlage der Masse benutzen, um dieselbe auf Kosten des Gemeinwesens und der Besitzenden an sich zu fesseln und gegen die staatserhaltenden Elemente zu hetzen, Politiker, die an eine ernstliche Bekämpfung des Pauperismus gar nicht denken, sondern nur daran, „wie die Besitzenden den Armen gleich zu machen seien“[2]? – Sind das nicht Erscheinungen, die sich aus der damaligen Gestaltung der socialen Frage mit innerer Nothwendigkeit ergaben?

Freilich ist diese Frage für die Grote’sche Geschichtschreibung so gut wie nicht vorhanden. Grote kennt in seiner demokratischen community der 99 Procent „Nichtreichen“ nur einzelne bettelhafte Existenzen, wie sie in keiner Gesellschaft fehlen, aber weiss nichts von einem Proletariat als einer socialen Gruppe, die ihr besonderes Classenbewusstsein und ihre besonderen Classenforderungen hat[3]. Daher gewinnt man aus seiner Darstellung kaum eine Ahnung davon, wie gewaltig sich die Opposition gegen die Grundlagen alles Bestehenden innerhalb der Hellenischen Republiken allmählig entwickelte, bis schliesslich

  1. W. R. a. a. O. S. 291.
  2. Isokrates Περὶ εἰρήνης § 129 ff.; wo es am Schlusse der gerade für unsere Zeit höchst lehrreichen Ausführung von diesen Demagogen heisst: οὐ γὰρ τοῦτο σκοποῦσιν, ἐξ οὗ τρόπου τοῖς δεομένοις βίον ἐκποριοῦσιν, ἀλλ’ ὅπως τοὺς ἔχειν τι δοκοῦντας τοῖς ἀπόροις ἐξισώσουσιν. Vgl. Demosthenes (?) Philippica IV § 44 u. 45.
  3. Vgl. die bezeichnende Ausführung in der W. R. a. a. O.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_012.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)