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Geistesfähigkeiten haben sich doch auch die Rechtsanschauungen und -begriffe jedes Volkes erst allmählig von naiverer, roherer zu bewussterer, feinerer Ausbildung ausgestaltet und jede Zeit jedes Volkes trägt das Mass ihrer Befähigung in ihren eigenen Leistungen. Ich bestreite in diesem Sinne, dass die Menschen des früheren Deutschen Mittelalters zu so bewusster, auf die längst verdunkelten Grundbegriffe zurückgreifender Anwendung und zu so allseitig consequenter Durchführung von Rechtsprincipien, befähigt und aufgelegt waren, wie Sohm ihnen das zuschreibt, und ich meine es erhärten zu können durch den Hinweis auf alles, was uns von der juristischen Technik jener Zeit vor Augen liegt.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst rückblickend, eine wie bewusst consequente Rechtsdialektik die fraglichen Fictionen voraussetzen. Der Marktstadtbezirk gilt ursprünglich nach officiellem Amtsrecht als vom König beschlagnahmt, und des zum Zeichen steht das Kreuz da; nach Volksrecht verbindet man nicht diese Vorstellung, der zufolge Verbrechen in der Stadt peinlich zu strafen wären, mit demselben Kreuz, man sieht darin nur ein Leibzeichen des Königs, das dessen Gegenwart bedeutet, und zieht daraus – wie anders als mit einem gewissen bewussten Gegensatz gegen jene Vorstellung? – die Folge, dass Verbrechen in dem Stadtbezirk so bestraft werden, als ob sie in der persönlichen Nähe des Königs geschehen wären. Nachdem diese volksrechtliche Anschauung und das derselben entsprechende Strafrecht lange Zeit geherrscht haben, besinnt man sich allmählig ohne ersichtlichen Anlass auf das amtsrechtliche Princip und gestaltet mit haarscharfer systematischer Consequenz nach diesem das Strafrecht um, mit solchem dialektischen Abstractionsvermögen, dass man sich in der Deduction nicht einmal dadurch stören lässt, dass in concreto mit der Gründung der Märkte in weitaus den meisten Fällen, wie Sohm selbst S. 32 betont, die Verleihung an einen Marktherrn verbunden war und daher das Eigenthum des Königs an der Marktstadt, um Sohm’s Ausdruck zu gebrauchen, „ein bloss formelles, lediglich in der rechtlichen Vorstellung bestehendes“ sein konnte.

Welche Befähigung zu abstract systematischem, bewusstem juristischen Denken setzen alle diese Operationen voraus! Und wie wenig entspricht eine solche Voraussetzung dem Geiste jener Zeit!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_269.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2023)