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Sehen wir uns nur die damaligen Leistungen in dieser Sphäre näher an!

Wie vermissen wir jede systematische Ordnung in allen Gesetzen des Deutschen Mittelalters von dem wirren Durcheinander der Fränkischen Capitularien bis zu den Reichsgesetzen der Staufer, ja selbst bis zur goldenen Bulle Karl’s IV.! Welch’ unfreies Haften an äusserlich sinnlichen Merkmalen und Symbolen, vom Strafrecht und Process der Lex salica bis zu den Strafbestimmungen der Landfrieden und Städterechte! Welch’ ungelenker Formalismus im Vertragsrecht, im Processverfahren, in den Executionsordnungen. Und wie sichtlich schwer wird es dem mittelalterlichen Geiste, wenn es einmal darauf ankommt, aus bestehenden Rechtsinstituten und -verhältnissen die Grundbegriffe zu abstrahiren: Generationen mühten sich ab, bis man erkannte und klarzustellen wusste, welche verschiedenen begrifflichen Momente geistlichen und weltlichen Rechts in dem Akte der Investitur der Reichsprälaten zu scheiden seien; in hilfloser Verlegenheit suchte man nach dem Rechtsgrunde für die Unabhängigkeit Deutscher Königswahl und -würde gegenüber den päpstlichen Ansprüchen; erst im Laufe von Jahrhunderten kam man zu einer sehr unvollkommenen begrifflichen Unterscheidung von Reichsgut und königlichem Hausgut. Durchweg folgen die theoretischen Anschauungen nur schwerfällig und langsam, nur gewissermassen Schritt für Schritt genöthigt, den praktischen Rechtsbedürfnissen: weit entfernt von dem Trieb nach einheitlich systematischer Durchbildung der Rechtsmaterien begnügt man sich überall mit der Umgestaltung des Nächstdringenden[1], überlässt man die wichtigsten Entwicklungen dem regellosen Walten localer Mächte oder den gelegentlichen individuellen Bestimmungen von Privilegien, Rechtsurtheilen, Weisthümern. Man erträgt ungestört die grössten Unklarheiten und Unbestimmtheiten in wichtigsten öffentlichen Rechtsverhältnissen, wie z. B. in der Begrenzung der königlichen, herzoglichen, gräflichen Befugnisse gegen einander, in den Competenzen des Reichstages, in der Stellung der Reichsabteien zum Reich, im gesammten Unterthanenverhältniss u. s. w.; man unterwirft den Inhalt der kaiserlichen Gewalt jener ungeheuer sach- und begriffswidrigen

  1. Vgl. z. B. die Darlegung von A. Heusler, Institutionen des Deutschen Privatrechts Bd. II (1886) S. 5 ff., speciell die Note 6.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_270.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2023)