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Die Jüdische Tradition selbst hat die Königsjahre nicht anders aufgefasst. Im Babylonischen Talmud, Traktat Rosch haschanah p. 1 b (citirt von Grätz, Geschichte der Juden I S. 469) heisst es: „Ist ein König im Adar gestorben, und sein Nachfolger hat in demselben Monat zu regieren begonnen, so zählt man das eine Jahr dem einen und dem anderen zu“. Wenn es sich freilich um die genaue Bezeichnung eines bestimmten Jahres innerhalb einer längeren Reihe von Jahren handelt, so ist eine Bezeichnung nach uncorrigirten Königsjahren sehr unzweckmässig.

Ein Volk, das auf eine brauchbare Zeitrechnung hält, muss daher noch für andere Mittel zur Bestimmung der Zeit sorgen, auch wenn in den officiellen Jahrbüchern bloss nach Königsjahren gerechnet wird. Den Assyrern diente zu diesem Zwecke ihr Eponymenkanon, die Babylonier schufen sich eine Aera. Den Hebräern scheint ein ähnliches Hilfsmittel gefehlt zu haben, wenigstens ist keine Spur erhalten, dass man sich seiner im bürgerlichen Leben bedient habe. Hätte man eines gehabt, so müsste es jedenfalls erst seit der Trennung der beiden Reiche aufgekommen sein; sonst könnte sich die Chronologie der vorhergehenden Zeiten nicht in solcher Verwirrung befinden. Ezechiel rechnet nach den Jahren des Landes, in das er abgeführt wurde; einen Augenblick schien es, als ob sich eine Aera von der Wegführung des Königs Jojachin ausbilden wollte. Zur Zeit ihrer Selbständigkeit waren die Hebräer in einer ähnlichen Lage, wie die Römer der Republik, welche in den Consuln zwar eponyme Beamte, aber nicht eponyme Jahresbeamte besassen und sich im bürgerlichen Leben keiner Aera bedienten, bei denen also der Name, die Bezeichnung eines Jahres mitten im Laufe desselben wechselte, wenn ein neues Consulpaar antrat. Ein solcher Wechsel der Benennung des Jahres muss bei den Hebräern bei jedem Regierungswechsel eingetreten sein; ihre Jahresbezeichnung war damit jedenfalls nicht schlechter als die Römische. Die Phöniker dagegen scheinen wenigstens theilweise eine chronologisch brauchbare Bezeichnung der Jahre besessen zu haben, wenn anders, wie wir doch Grund haben, anzunehmen, Tyros und Karthago nach derselben Aera rechneten. Es ist dabei zu beachten, dass die Stellung der Phönikischen Könige gegenüber ihren Unterthanen eine weniger bedeutende und herrschende war, als die der Könige von Israel und Juda gegenüber den ihrigen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br. und Leipzig: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1896, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1895_12_047.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)