Carl Hau: Das Todesurteil. Die Geschichte meines Prozesses. | |
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weniger als Sie. Aber das wird ja morgen in den Zeitungen zu lesen sein. Weshalb fragen Sie?“
„Wenn der Schuß nach sieben Uhr abends abgegeben worden ist, habe ich ein unanfechtbares Alibi. Denn da saß ich wieder im Zug auf der Rückreise nach London. In Frankfurt hatte ich direkten Anschluß an den Ostende-Expreß, den einzigen Zug, der mich so rasch nach London bringen konnte, daß Sie in der Lage waren, mich gestern kurz nach sechs Uhr zu verhaften.“
„Sie hätten auch den Orient-Expreß benützen können über Paris und Calais.“
„Nein. Ich habe von Brüssel aus meiner Frau die Stunde meiner Ankunft telegraphiert.“
„Wenn nun aber der Schuß vorher gefallen ist?“
„Dann wäre es mit dem Alibi nichts. Aber um sechs Uhr habe ich meine Schwiegermutter noch gesehen. Es wäre doch ein böser Zufall, wenn sie gerade in der nächsten Stunde erschossen worden wäre.“
Mr. Smith zupfte nachdenklich an seinem Nietzsche-Bart. „Mir scheint, Sie sitzen ordentlich in der Tinte. Ausgeliefert werden Sie auf alle Fälle, dazu reicht der Indizienbeweis zweifellos. Wenn es gelingt, ein plausibles Motiv für die Tat zu finden, ist Ihre Verurteilung sicher.“
„Ja, wenn es gelingt. Ein plausibles Motiv! Es wird sich überhaupt kein Motiv finden lassen. Es lag für mich nicht der Schatten einer Veranlassung vor, die alte Dame umzubringen. Und ohne Grund und Zweck bringt man doch keinen Menschen um.“
Mr. Smith grinste. „Nicht einmal eine Schwiegermutter.“ – Er erhob sich. „Ich werde Ihnen das Nötige an Wäsche und Kleidern ins Untersuchungsgefängnis nach Brixton hinausschicken. Dorthin werden Sie heute nachmittag übergeführt werden. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Carl Hau: Das Todesurteil. Die Geschichte meines Prozesses.. Ullstein, Berlin 1925, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Das_Todesurteil_(Hau).djvu/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)