Carl Hau: Das Todesurteil. Die Geschichte meines Prozesses. | |
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gestanden, ich weiß nicht recht, was ich denken soll. Als alter Kriminalist neige ich dazu, Sie für den Täter zu halten. Wenn ich auf der Geschworenenbank säße, würde ich mich wohl nur schwer zu einem Schuldig entschließen können. Daß ich in Ihnen keinen gemeinen Verbrecher, keinen Mörder sehe, werden Sie mir wohl glauben. Aber jeder Mensch kann in eine Lage kommen, wo er sich zu etwas hinreißen läßt, was ihm keiner zugetraut hätte. Dem, der die Untersuchung gegen Sie führt, möchte ich den Rat geben: Cherchez la femme!“
„Da dürfte er wohl vergebens suchen“, erwiderte ich nach einer Pause.
„Sicher nicht. Ich bin überzeugt, daß er da die Lösung des Rätsels finden würde.“
„Aber Sie haben doch die Auslieferungspapiere gelesen. Der ganze Indizienbeweis ist beieinander. Lückenlos. Es gibt gar nichts mehr zu suchen. Der Fall ist klar.“
Mr. Smith machte ein sehr überlegenes Gesicht. „Sie müssen mir schon erlauben, anderer Meinung zu sein. Mir scheint, alles, was bisher an Beweismaterial beigebracht wurde, ist nur das äußere Gerüst. Noch fehlt die Hauptsache. Das glaubwürdige Motiv. Und ich vermute, daß der Untersuchungsrichter das finden wird, wenn er meinen Rat beherzigt.“
„Der Untersuchungsrichter hält sich an eine andere Maxime, die ebenso alt ist und ebensoviel Wert hat wie die Ihrige. Cui bono? Und da hat er das Motiv schon gefunden.“
„Ich glaube nicht, daß er es gefunden hat. So einfach liegt der Fall nicht. Wir werden ja sehen. Sie werden übrigens staunen, wenn ich Ihnen verrate, daß Sir Albert von Ihrer Unschuld ziemlich fest überzeugt ist.“
„Sie haben mit ihm über den Fall gesprochen?“
„Oft und lange. Auf sein Urteil gebe ich viel, mehr als auf das irgendeines anderen. Er hat einen wunderbaren Instinkt. Ich möchte
Carl Hau: Das Todesurteil. Die Geschichte meines Prozesses.. Ullstein, Berlin 1925, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Das_Todesurteil_(Hau).djvu/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)