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gebracht, welche nach alten Gewohnheitsrechten entschied, die im sechzehnten Jahrhunderte in die Feder verfaßt und verzeichnet worden sind. Das Verfahren, das da üblich war, mahnt an jenes, welches wir im Bregenzerwalde kennen gelernt.

Ueber dem Wasser bei St. Martin liegt der kleine Weiler Picolein, etliche zierliche Häuser, darunter zwei ehemalige adelige Ansitze und dabei eine Capelle. In dieser ist auf einem Seitenaltare dasselbe Gemälde zu sehen, wie in der Kirche zu Corvara. An den Wänden sind auf großen Tafeln die Wunder des heiligen Antonius angemalt: rechts die, welche er bei Lebzeiten, links jene, so er nach seinem Tode verrichtet hat – ein halbes Hundert recht sehenswürdiger Darstellungen. Unter den erstern ist auch die Fischpredigt nicht vergessen, und es nimmt sich sehr gut aus, wie die Geschwader der Fische, die in Reih und Glied sich aufgestellt, die naiven Häupter zum Wasser herausstrecken um das Wort Gottes zu vernehmen; unter den letztern hat mir besonders gefallen die Geschichte, wie der heilige Antonius einem bedrängten Factor aus der Noth hilft. Derselbe Factor, der seinem Herrn tausend Gulden schuldig gewesen, diese jedoch wieder bezahlt hatte, wurde nach dem Tode des erstern noch einmal darum angefordert, weil der Verstorbene vergessen hatte die Heimzahlung im Handlungsbuche zu bemerken. Der Factor rief nun in seiner Angst St. Antonium um Hülfe an, und der Heilige schaffte sie auch dadurch, daß er den todten Herrn, welcher verdammt war, vor die Pforten der Hölle beschied, um nachträglich die Quittung zu unterschreiben. Da steht nun, während die lebenden Erben im Comptoir disputiren, in der Ferne die Hölle offen und der arme, zu seinen Lebzeiten so vergeßliche Kerl, splitter nackt und rothgesotten wie ein Krebs, stellt am Eingang der Unterwelt die Urkunde aus, in Beiseyn des heiligen Antonius, des Factors und eines gluthäugigen Teufels, der mit der Feuergabel als Schildwache daneben paradirt.

Von Picolein steigt das Sträßchen in die Höhe und zieht dann oben an der steilen Halde des Plainsberges hin, so daß der stürmende Bach tief unten in der düstern Schlucht kaum mehr zu erschauen ist. Allmählich geht der Weg in schattigen

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_473.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)