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die gleichfalls während einer Krankenpflege gleichzeitig mit den Genickkrämpfen begannen. Ueber die „Genickkrämpfe“ erfahre ich nur Folgendes. Sie haben eigenthümliche Zustände von Unruhe mit Verstimmung abgelöst, die früher da waren, und bestehen in einem „eisigen Packen“ im Genick, mit Steifwerden und schmerzhafter Kälte aller Extremitäten, Unfähigkeit zu sprechen und voller Prostration. Sie dauern 6–12 Stunden. Meine Versuche, diesen Symptomcomplex als Reminiscenz zu entlarven, schlagen fehl. Die dahin zielenden Fragen, ob sie der Bruder, den sie im Delirium pflegte, einmal am Genick gepackt, werden verneint; sie weiss nicht, woher diese Anfälle rühren.[1]


zugebracht. Die Gründe aller dieser Zustände waren ihr und anderen unbekannt, ihr glänzend ausgestattetes Gedächtnis wies die auffälligsten Lücken auf; ihr Leben sei ihr wie zerstückelt, klagte sie selbst. Eines Tages brach plötzlich eine alte Reminiscenz in plastischer Anschaulichkeit mit aller Frische der neuen Empfindung über sie herein, und von da an lebte sie durch fast 3 Jahre alle Traumen ihres Lebens – längst vergessen geglaubte und manche eigentlich nie erinnerte – von Neuem durch mit dem entsetzlichsten Aufwand von Leiden und der Wiederkehr aller Symptome, die sie je gehabt. Diese „Tilgung alter Schulden“ umfasste einen Zeitraum von 33 Jahren und gestattete, von jedem ihrer Zustände die oft sehr complicirte Determinirung zu erkennen. Man konnte ihr Erleichterung nur dadurch bringen, dass man ihr Gelegenheit gab, sich die Reminiscenz, die sie gerade quälte, mit allem dazugehörigen Aufwand an Stimmung und deren körperlichen Aeusserungen in der Hypnose abzusprechen, und wenn ich verhindert war, dabei zu sein, so dass sie vor einer Person sprechen musste, gegen welche sie sich genirt fühlte, so geschah es einige Male, dass sie dieser ganz ruhig die Geschichte erzählte und mir nachträglich in der Hypnose all das Weinen, all die Aeusserungen der Verzweiflung brachte, mit welchen sie die Erzählung eigentlich hätte begleiten wollen. Nach einer solchen Reinigung in der Hypnose war sie einige Stunden ganz wohl und gegenwärtig. Nach kurzer Zeit brach die der Reihe nach nächste Reminiscenz herein. Diese schickte aber die dazu gehörige Stimmung um Stunden voraus. Sie wurde reizbar oder ängstlich oder verzweifelt, ohne je zu ahnen, dass diese Stimmung nicht der Gegenwart, sondern dem Zustande angehöre, der sie zunächst befallen werde. In dieser Zeit des Ueberganges machte sie dann regelmässig eine falsche Verknüpfung, an der sie bis zur Hypnose hartnäckig festhielt. So z. B. empfing sie mich einmal mit der Frage: „Bin ich nicht eine verworfene Person, ist das nicht ein Zeichen der tiefsten Verworfenheit, dass ich Ihnen gestern diess gesagt habe?“ Was sie Tags vorher gesagt hatte, war mir wirklich nicht geeignet, diese Verdammung irgendwie zu rechtfertigen; sie sah es nach kurzer Erörterung auch sehr wohl ein, aber die nächste Hypnose brachte eine Reminiscenz zum Vorschein, bei deren Anlass sie sich vor 12 Jahren einen schweren Vorwurf gemacht hatte, an dem sie in der Gegenwart übrigens gar nicht mehr festhielt.


  1. Bei nachheriger Ueberlegung muss ich mir sagen, dass diese „Genickkrämpfe“ organisch bedingte, der Migräne analoge Zustände gewesen sein mögen. Man sieht in praxi mehr derartige Zustände, die nicht beschrieben sind und die eine so auffällige Uebereinstimmung mit dem classischen Anfall von Hemicranie [59] zeigen, dass man gerne die Begriffsbestimmung der letzteren erweitern und die Localisation des Schmerzes an die zweite Stelle drängen wollte. Wie bekannt pflegen viele neuropathische Frauen mit dem Migränanfall hysterische Anfälle (Zuckungen und Delirien) zu verbinden. So oft ich den Genickkrampf bei Frau Emmy sah, war auch jedesmal ein Anfall von Delirium dabei.
    Was die Arm- und Beinschmerzen angeht, so denke ich, dass hier ein Fall der nicht sehr interessanten, aber um so häufigeren Art der Determinirung durch zufällige Coincidenz vorlag. Sie hatte solche Schmerzen während jener Zeit der Aufregung und Krankenpflege gehabt, in Folge der Erschöpfung stärker als sonst empfunden, und diese, ursprünglich mit jenen Erlebnissen nur zufällig associirten Schmerzen wurden dann in ihrer Erinnerung als das körperliche Symbol des Associationscomplexes wiederholt. Ich werde von beweisenden Beispielen für diesen Vorgang in der Folge noch mehrere anführen können. Wahrscheinlich waren die Schmerzen ursprünglich rheumatische d. h., um dem viel missbrauchten Worte einen bestimmten Sinn zu geben, solche Schmerzen, die hauptsächlich in den Muskeln sitzen, bei denen bedeutende Druckempfindlichkeit und Consistenzveränderung der Muskeln nachzuweisen ist, die sich am heftigsten nach längerer Ruhe oder Fixirung der Extremität äussern, also am Morgen, die auf Einübung der schmerzhaften Bewegung sich bessern und durch Massage zum Verschwinden zu bringen sind. Diese myogenen Schmerzen, bei allen Menschen sehr häufig, gelangen bei den Neuropathen zu grosser Bedeutung; sie werden von ihnen mit Unterstützung der Aerzte, die nicht die Gewohnheit haben, die Muskeln mit dem Fingerdruck zu prüfen, für nervöse gehalten und geben das Material für unbestimmt viele hysterische Neuralgien, sogenannte Ischias u. dgl. ab. Auf die Beziehungen dieses Leidens zur gichtischen Disposition will ich hier nur kurz hinweisen. Mutter und zwei Schwestern meiner Patientin hatten an Gicht (oder chronischem Rheumatismus) im hohen Grade gelitten. Ein Theil der Schmerzen, über welche sie damals klagte, mochte auch gegenwärtiger Natur sein. Ich weiss es nicht; ich hatte damals noch keine Uebung in der Beurtheilung dieses Zustandes der Muskeln.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_058.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)