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dessen Physiognomie den unvermischten Ausdruck des Unbehagens oder des physischen Schmerzes, der Kranke zuckt ferner zusammen, entzieht sich der Untersuchung, wehrt ab. Wenn man aber bei Frl. v. R. die hyperalgische Haut und Muskulatur der Beine kneipte oder drückte, so nahm ihr Gesicht einen eigenthümlichen Ausdruck an, eher den der Lust als des Schmerzes, sie schrie auf, – ich musste denken, etwa wie bei einem wollüstigen Kitzel, – ihr Gesicht röthete sich, sie warf den Kopf zurück, schloss die Augen, der Rumpf bog sich nach rückwärts; das alles war nicht sehr grob, aber doch deutlich ausgeprägt und liess sich nur mit der Auffassung vereinigen, das Leiden sei eine Hysterie, und die Reizung habe eine hysterogene Zone betroffen.

Die Miene passte nicht zum Schmerz, den das Kneipen der Muskeln und Haut angeblich erregte, wahrscheinlich stimmte sie besser zum Inhalte der Gedanken, die hinter diesem Schmerz steckten, und die man in der Kranken durch Reizung der ihnen associirten Körperstellen weckte. Ich hatte ähnlich bedeutungsvolle Mienen bei Reizung hyperalgischer Zonen wiederholt in sicheren Fällen von Hysterie beobachtet; die anderen Gebärden entsprachen offenbar der leichtesten Andeutung eines hysterischen Anfalles.

Für die ungewöhnliche Localisation der hysterogenen Zone ergab sich zunächst keine Aufklärung. Dass die Hyperalgesie hauptsächlich die Muskulatur betraf, gab auch zu denken. Das häufigste Leiden, welches die diffuse und locale Druckempfindlichkeit der Muskeln verschuldet, ist die rheumatische Infiltration derselben, der gemeine chronische Muskelrheumatismus, von dessen Eignung, nervöse Affectionen vorzutäuschen, ich bereits gesprochen habe. Die Consistenz der schmerzhaften Muskeln bei Frl. v. R. widersprach dieser Annahme nicht, es fanden sich vielfältig harte Stränge in den Muskelmassen, die auch besonders empfindlich schienen. Wahrscheinlich lag also eine im angegebenen Sinn organische Veränderung der Muskeln vor, an welche sich die Neurose anlehnte, und deren Bedeutung die Neurose übertrieben gross erscheinen liess.

Die Therapie gieng auch von einer derartigen Voraussetzung eines gemischten Leidens aus. Wir empfahlen Fortsetzung einer systematischen Knetung und Faradisirung der empfindlichen Muskeln ohne Rücksicht auf den dadurch entstehenden Schmerz, und ich behielt mir die Behandlung der Beine mit starken Franklin’schen Funkenentladungen vor, um mit der Kranken in Verkehr bleiben zu können. Ihre Frage, ob sie sich zum Gehen zwingen solle, beantworteten wir mit entschiedenem Ja.

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_118.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)