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auch die Schutzheilige der Hysterie, St. Theresa, eine geniale Frau von der grössten praktischen Tüchtigkeit.

Aber freilich, auch kein Ausmass von Albernheit, Unbrauchbarkeit und Willensschwäche sichert vor Hysterie. Auch wenn man von all dem absieht, was erst Folge der Krankheit ist, muss man den Typus der schwachsinnigen Hysterischen als einen häufigen anerkennen. Nur handelt es sich auch hier nicht um torpide, phlegmatische Dummheit, sondern mehr um einen überhohen Grad geistiger Beweglichkeit, welche untüchtig macht. Ich werde später die Frage nach der originären Disposition besprechen. Hier soll nur festgestellt werden, dass die Meinung Janet’s, geistige Schwäche liege überhaupt der Hysterie und der psychischen Spaltung zu Grunde, unannehmbar ist.

Im vollen Gegensatz zu Janet’s Ansicht meine ich, in sehr vielen Fällen liege der Desaggregation eine psychische Ueberleistung zu Grunde, die habituelle Coexistenz zweier heterogenen Vorstellungsreihen. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass wir häufig nicht bloss „mechanisch“ thätig sind, während in unserem bewussten Denken Vorstellungsreihen ablaufen, die mit unserer Thätigkeit nichts gemein haben; sondern wir sind auch unzweifelhafter psychischer Leistungen fähig, während unsere Gedanken „anderswo beschäftigt“ sind; wie z. B. wenn wir correct und mit dem entsprechenden Tonfall vorlesen und doch dann absolut nicht wissen, was wir gelesen haben.

Es gibt wohl eine ganze Menge von Thätigkeiten, von den mechanischen wie Stricken, Skalenspielen an bis zu solchen, die immerhin einige seelische Leistung bedingen, welche alle von vielen Menschen mit halber Präsenz des Geistes geleistet werden. Besonders von solchen, die, bei grosser Lebhaftigkeit, durch monotone, einfache, reizlose Beschäftigung gequält werden und sich anfangs geradezu absichtlich die Unterhaltung verschaffen, an anderes zu denken. („Privattheater“ bei Anna O., Krankengeschichte Nr. I.) Ein anderer, aber ähnlicher Fall besteht, wenn eine interessante Vorstellungsreihe, z. B. aus Lecture, Theater u. dgl. stammend, sich auf- und eindrängt. Noch energischer ist dieses Eindrängen, wenn die fremde Vorstellungsreihe stark „affectiv betont“ ist, als Sorge, verliebte Sehnsucht. Dann ist der oben berührte Zustand der Präoccupation gegeben, der aber viele Menschen nicht hindert, Leistungen von massiger Complicirtheit dennoch zu Stande zu bringen. Sociale Verhältnisse erzwingen oft solche Verdoppelungen auch intensiven Denkens, wie z. B. wenn eine Frau in quälender Sorge oder leidenschaftlicher Aufregung ihre geselligen

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_204.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)