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als eine Erlösung, und die Erklärung, es sei „nur nervös“ und werde vergehen, genügte, um ihr schwere Gewissensangst zu erzeugen. Das Krankheitsbedürfniss entspringt der Sehnsucht der Patientin, sich und andere von der Realität ihrer Krankheit zu überzeugen. Wenn es sich dann zu der Pein gesellt, welche durch die Monotonie des Krankenzimmers bedingt wird, so entwickelt sich die Neigung, immer neue Symptome zu haben, auf’s stärkste.

Wenn diese aber zur Verlogenheit wird und zu wirklicher Simulation führt – und ich glaube, wir gehen jetzt in der Ablehnung der Simulation gerade so zu weit, wie früher in ihrer Annahme – dann beruht das nicht auf der hysterischen Disposition, sondern, wie Möbius vortrefflich sagt, auf der Complication derselben mit andern Degenerationen, originärer moralischer Minderwertigkeit. Gerade wie die „bösartige Hysterica“ dadurch entsteht, dass ein originär erregbarer, aber gemütsarmer Mensch noch der egoistischen Charakterverkümmerung anheimfallt, welche chronisches Siechthum so leicht erzeugt. Die „bösartige Hysterica“ ist übrigens kaum häufiger als der bösartige Tabiker späterer Stadien.

Auch in der motorischen Sphäre erzeugt der Erregungsüberschuss pathologische Phänomene. So geartete Kinder entwickeln sehr leicht tickartige Bewegungen, welche, zuerst angeregt durch irgend eine Empfindung in den Augen oder im Gesichte oder durch die Gêne eines Kleidungsstückes, alsbald Dauer gewinnen, wenn sie nicht sogleich bekämpft werden. Die Reflexbahnen werden sehr leicht und rasch „ausgefahren“.

Es ist auch nicht abzuweisen, dass es einen rein motorischen, von jedem psychischen Factor unabhängigen Krampfanfall gebe, in dem sich nur die durch Summation angehäufte Erregungsmasse entlädt, geradeso wie die durch anatomische Veränderungen bedingte Reizmasse im epileptischen Anfalle. Das wäre der nicht ideogene hysterische Krampf.

Wir sehen so oft Adolescenten, welche zwar erregbar, aber gesund waren, während der Pubertätsentwicklung an Hysterie erkranken, dass wir uns fragen müssen, ob dieser Process nicht dort die Disposition schafft, wo sie originär noch nicht vorhanden ist. Und allerdings müssen wir ihm mehr zuschreiben als die einfache Steigerung des Erregungsquantums; die Geschlechtsreifung greift im ganzen Nervensystem an, überall die Erregbarkeit steigernd und die Widerstände herabsetzend. Das lehrt die Beobachtung der nicht hysterischen Adolescenten, und

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_214.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)