als ruhte nicht nur seine Hand, sondern auch seine Seele auf Sserjoschas Samtbluse. Er sah ihm in die großen dunklen Augen, und es war ihm, als blickten ihn aus diesen Augen auch seine Mutter und seine Frau an und alle, die er je geliebt hatte.
– Nun geh hin und schlage ihn… – dachte er sich. – Denk’ dir für ihn eine Strafe aus! Nein, was bin ich für ein Erzieher! Früher waren die Menschen einfacher, sie grübelten weniger und lösten darum solche Fragen tapfer. Wir aber grübeln zu viel, die Logik hat uns vergiftet… Je intelligenter ein Mensch ist, je mehr er grübelt und ins Detail geht, um so unentschlossener und befangener ist er und um so ängstlicher macht er sich an die Sache. Und in der Tat, wenn man es so bedenkt, wieviel Mut und Selbstvertrauen muß man haben, um es zu unternehmen, einen Menschen zu belehren und zu richten oder ein dickes Buch zu schreiben… –
Es schlug zehn.
„Nun, Kind, es ist Zeit für dich,“ sagte der Staatsanwalt. „Sag’ gute Nacht und geh’ zu Bett.“
„Nein, Papa,“ erwiderte Sserjoscha mit einer Grimasse, „ich bleib’ noch ein wenig bei dir. Erzähl’ mir etwas! Erzähl’ mir ein Märchen.“
„Gut, aber gleich nach dem Märchen gehst du zu Bett.“
Jewgenij Petrowitsch pflegte Sserjoscha an seinen freien Abenden Märchen zu erzählen. Wie die meisten vielbeschäftigten Menschen, hatte er kein einziges Gedicht im Kopf und kannte kein einziges Märchen, so daß er immer improvisieren mußte. Gewöhnlich fing er ganz nach der Schablone an: „In einem gewissen Königreiche…“ Und weiter häufte er allerlei harmlosen Unsinn an und wußte zu Beginn der Geschichte nie, wie die Mitte und der Schluß ausfallen würden. Er
Anton Pawlowitsch Tschechow: Von Frauen und Kindern. Musarion, München 1920, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Von_Frauen_und_Kindern_(Tschechow).djvu/073&oldid=- (Version vom 31.7.2018)