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O eurer Litteratur geworden ist, ihr Schreiber und Ladendiener, daß ihr ihn beständig bei euch führt, und wenn der Prinzipal ein wenig beiseite geht, ihn schnell aus der Tasche holt, um eure magere Phantasie durch einige Ballgeschichten, Champagnertreffen und Austernschmäuse anzufeuchten; ich weiß, daß er bei euch allen der Mann des Tages geworden ist, aber nichtsdestoweniger, ja, gerade darum und eben deswegen will ich seinen Namen aussprechen, er nennt sich Clauren. Anathema sit![WS 1]

Vor zwölf Jahren laset ihr, was eurem Geschmack gerade keine Ehre machte, Spies und Cramer[1], mitunter die köstlichen Schriften über Erziehung von Lafontaine[2]; wenn ihr von Meißner[3] etwas anders gelesen, als einige Kriminalgeschichten etc., so habt ihr euch wohl gehütet, es in guter Gesellschaft wiederzusagen; einige aber von euch waren auf gutem Wege, denn Schiller fing an, ein großes Publikum zu bekommen. Gewinn für ihn und für sein Jahrhundert, wenn er, wie ihr zu sagen pflegt, in die Mode gekommen wäre; dazu war er aber auch zu groß, zu stark. Ihr wolltet euch die Mühe nicht geben, seinen erhabenen Gedanken ganz zu folgen. Er wollte euch losreißen aus eurer Spießbürgerlichkeit, er wollte euch aufrütteln aus eurem Hinbrüten, mit jener ehernen Stimme, die er mit den Silberklängen seiner Saiten mischte, er sprach von Freiheit, von Menschenwürde, von jeder erhabenen Empfindung, die in der menschlichen Brust geweckt werden kann, – gemeine Seelen! Euch langweilten seine herrlichsten Tragödien, er war euch nicht allgemein genug. Was soll ich von Goethe reden? Kaum, daß ihr es über euch vermögen konntet, seine Wahlverwandtschaften zu lesen, weil man euch sagte, es finden sich dort einige sogenannte pikante Stellen – ihr konntet ihm keinen Geschmack abgewinnen, er war euch zu vornehm.

Da war eines Tages in den Buchladen ausgehängt: „Mimili, [229] eine Schweizergeschichte.“[4] Man las, man staunte. Siehe da, eine neue Manier zu erzählen, so angenehm, so natürlich, so rührend und so reizend! Und in diesen vier Worten habt ihr in der That die Vorzüge und den Gehalt jenes Buches ausgesprochen. Man würde lügen, wollte man nicht auf den ersten Anblick diese Manier angenehm finden. Es ist ein ländliches Gemälde, dem die Anmut nicht fehlt; es ist eine wohltönende, leichte Sprache, die Sprache der Gesellschaft, die sich zum Gesetz macht, keine Saite zu stark anzuschlagen, nie zu tief einzugehen, den Gedankenflug nie höher zu nehmen als bis an den Plafond[WS 2] des Theezimmers. Es ist wirklich angenehm zu lesen, wie eine Musik angenehm zu hören ist, die dem Ohr durch sanfte Töne schmeichelt, welche in einzelne wohllautende Akkorde gesammelt sind. Sie darf keinen Charakter haben, diese Musik, sie darf keinen eigentlichen Gedanken, keine tiefere Empfindung ausdrücken, sonst würde die arme Seele unverständlich werden oder die Gedanken zu sehr affizieren[WS 3]. Eine angenehme Musik, so zwischen Schlafen und Wachen, die uns einwiegt und in süße Träume hinüberlullt. Siehe, so die Sprache, so die Form jener neuen Manier, die euch entzückte.

Das zweite, was euch gefiel, hängt mit diesem ersteren sehr genau zusammen, diese Manier war so natürlich. Es ist etwas Schönes, Erhabenes um die Natur, besonders um die Natur in den Alpen. Schiller ist auch einmal dort eingekehrt, ich meine mit Wilhelm Tell. Sein Drama ist so erhaben, als die Natur der Schweizerlande, es bietet Aussichten, so köstlich und groß, wie die von der Tellskapelle[WS 4] über den See hin, aber nicht wahr, ihr lieben Seelen, der ist euch doch nicht natürlich genug? Zu was auch die Seele anfüllen mit unnützen Erinnerungen an die Thaten einer großen Vorzeit? Zu was Weiber schildern wie eine Gertrude Stauffacher oder eine Bertha, oder Männer wie einen Tell oder einen Melchthal? Da weiß es Clauren viel besser, viel natürlicher zu machen! Statt großartige Charaktere zu malen, für welche er freilich in seinem Kasten keine Farben finden mag, malt


  1. Über Spieß und Cramer vgl. Anmerk. Bd. II, S. 319.
  2. Aug. Heinr. Jul. Lafontaine (1759–1831), deutscher Romanschriftsteller, Verfasser sehr matter und empfindsamer Familienromane.
  3. Aug. Gottl. Meißner (1753–1807), Großvater des Dichters Alfred Meißner, seiner Zeit beliebter Schriftsteller, doch ohne große Bedeutung, Verfasser von Romanen und Erzählungen.
  4. Eine der bekanntesten Erzählungen von H. Clauren, oft über Gebühr geschmäht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Anathema sit! (griech./latein.) bedeutet: er sei verflucht, eine formelhafte Wendung mit dem die Verbannung aus der Kirche ausgesprochen wurde, insbesondere bei Herätikern (vgl. Herders Conversations-Lexikon, Freiburg i. B. 1854, Band 1, S. 174 und den Wikipedia-Artikel Anathema).
  2. Die Zimmerdecke.
  3. Erregen, in einen Zustand versetzen.
  4. Eine Kapelle am Ufer des Vierwaldstättersees, die dort liegt, wo der Sage nach Wilhelm Tell vom Boot des Landvogts Gessler gesprungen sein soll.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 228–229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_117.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)