Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/85

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allen Seiten wurden die Sinne unangenehm berührt, so daß es war, als seien wir in die Citta dolente des Dante mit ihren Strafabtheilungen gerathen. Ich war glücklich, als wir am Einschiffungsplatze angelangt waren, wo uns ein Boot aufnahm und an Bord brachte. Hier setzten wir uns auf eine Bank und sahen dem geschäftigen[WS 1] Treiben der Passagiere und Bootsleute zu, während H. und seine Frau, Dienerschaft der Miß, unser Gepäck in Sicherheit brachten. Um zehn Uhr wurden die Anker gelichtet, die Maschine puffte und pustete, und unser Dampfer glitt langsam durch die zahllosen Schiffe hindurch, welche fortwährend hier liegen oder segeln. Plötzlich stand im milden Lichte des Mondes jene prachtvolle Veste vor uns, die ich während meiner Gefangenschaft bei den Kerkermeisterinnen H. und N. nicht hatte sehen können – der Tower mit seinen riesigen Bastionen, Mauern, Thürmen und Außenwerken, in deren Mitte sich ein zauberisches Schloß erhob. Einen Augenblick glaubte ich ein Trugbild der Fata-Morgana zu sehen, aber als Miß M. den Namen Tower aussprach, war es auch keine leblose Steinmasse, die ich erblickte, sondern meine Phantasie belebte sie mit den Geistern aller Derer, die hier gelebt und gelitten hatten und eines gewaltsamen Todes gestorben waren. O, seufzte ich, warum sind Staatsverfassungen und Gesetze so spät menschlich geworden? Ihr gehört alle zu den Opfern der Barbarei voriger Jahrhunderte, und hätten die Völker ihre Regierungen nicht gewaltsam vorwärts gestoßen, so säße heute noch politischer und religiöser Aberglaube auf seinem blutigen Throne, und die Humanität wäre nur erst in den Köpfen einiger Edeln und würde als Chimäre verlacht. – Die beginnende Seekrankheit unterbrach sehr unsanft meine philosophischen Betrachtungen, und das jammervolle Ansehen meiner Dame verrieth einen ganz verwandten Zustand; wir versuchten in die Kajüte zu krabbeln, waren aber bereits so ohnmächtig, daß wir warten mußten, bis man uns hinab führte. – Die Ueberfahrt war übrigens eine sehr glückliche und wir kamen am nächsten Nachmittage mit sehr geschärftem Appetit in Ostende an, wo wir vortrefflich bewirthet wurden.

Zu unserem Erstaunen sahen wir hier die Frauen der unteren Klasse große dicke Tuchmäntel tragen, obgleich es eine Hitze von 24 Grad R. war. Wir wurden dabei an das spanische Sprüchwort erinnert: El que preserve de el frio, preserve de el calor – (was die Kälte abhält, hält auch die Wärme ab). Wir vermutheten, daß dieses Costüm

Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: geschättigen