diese polnisch-jüdische Kulturwildnis nicht und meint deswegen, die Erforschung derselben wäre eine große That. Chamberlain erklärt, „er besitze in der Ritualmord-Frage keinerlei Specialkenntnisse, und sei darum weder befugt noch gewillt, hierüber ein Gutachten abzugeben; daß ein Ritualmord von der echten, orthodoxen Gesetzeslehre des Judentums nicht vorgeschrieben sei, daß diese ihn vielmehr perhorrescieren muß, scheine ihm fraglos. Es könnte sich nur um das Fortbestehen eines uralten semitischen oder syrischen Gebrauches handeln – der jüdischen Lehre zum Trotz.“ Diese drei Gutachten gehören wohl zu jenen, welche nach dem Urteile der Staatsbürger-Zeitung ein überraschendes Ergebnis geliefert haben, - aber nach der Seite hin, daß sie mit größerem Rechte Leichenreden auf den Ritualmord-Aberglauben als eine wissenschaftliche Nachweisung desselben zu nennen sind.
Zu einiger Abwechslung erscheint im Leichenzuge jetzt der Chefredakteur der Kreuzzeitung selbst, H. Dr. Bachler in Berlin. Er verkündigt der Welt die Neuigkeit, daß, während eine Reihe von Päpsten die Juden gegen die Anklagen wegen Ritualmords in Schutz nahmen und diese Anklagen als böswillige Verleumdungen untersagten, die katholische Kirche selbst eine ganze Reihe von Knaben, die von den Juden gemartert und rituell geschlachtet wurden, selig gesprochen hat. Er sagt in seinem „Gutachten“: „Seit fast tausend Jahren ist eine vollständige Reihe erwiesener Ritualmorde schriftlich aufgestellt worden, und die katholische Kirche hat sogar einige der von Juden ermordeten Personen wegen ihres Martyriums selig gesprochen, so einen 1244 in London von Juden gemarterten und getöteten Knaben, den sie als St. Paul verehrt; selig wurde ferner ein 1345 in München von den Juden ermordeter gewisser Heinrich, ebenso der 1475 in Trient von Juden ermordete kleine Simon.“ Vorerst will ich dem H. Dr. Bachler die Freude machen, daß ich den drei von ihm genannten seligen Knaben noch drei weitere beifüge, nämlich den seligen Rudolf von Bern, den kleinen Andreas von Rinn und den guten Werner von Oberwesel. Er muß aber auch meine Bitte erfüllen, nachzulesen, was ich über diese Fälle in meinem Buche vom Ritualmord niedergeschrieben habe. Er wird dort finden, daß er sich in einem großen Irrtum befindet, wenn er meint, daß die katholische Kirche diese Knaben selig gesprochen
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)